Lewis, Michael
Glasauge, aber stellte sich nicht auf sein Gegenüber ein. Wenn er bei
gesellschaftlichen Anlässen mit anderen plauderte, bekam sein jeweiliger
Gesprächspartner unwillkürlich einen Linksdrall. »Ich wusste nicht, was ich
dagegen tun sollte«, sagte er. »Irgendwie rutschen die Leute immer weiter nach
links, bis sie links neben mir stehen, und ich versuche, meinen Kopf nicht
weiter zu drehen. Am Ende wende ich den Kopf nach rechts und mein gutes Auge
schaut über meinen Nasenrücken nach links.«
Sein
Glasauge war seiner Vermutung nach der Grund, weshalb die persönliche Begegnung
mit anderen für ihn selten positiv verlief. Er fand es entnervend, die
nonverbalen Signale anderer zu entziffern. Und ihre verbalen Signale fasste er
oft wörtlicher auf, als sie gemeint waren. Am schlimmsten war das meist gerade
dann, wenn er sich besondere Mühe gab. »Irgendwie kamen meine Komplimente nicht
richtig an«, erzählte er. »Ich hatte bald gelernt, dass Komplimente total
danebengehen können. Für Ihre Größe sehen Sie gut aus. Das ist wirklich ein
hübsches Kleid, schaut aus wie selbst genäht.« Das Glasauge wurde zu seiner
persönlichen Rechtfertigung dafür, dass er sich nie richtig integrieren konnte.
Das Auge nässte und tränte und erforderte ständige Aufmerksamkeit. Und andere
Kinder piesackten ihn deshalb unbarmherzig. Sie nannten ihn Schielauge, obwohl
das nicht stimmte. Regelmäßig bedrängten sie ihn, das Auge herauszunehmen -
doch wenn er nachgab, infizierte sich die Augenhöhle, und das Ganze wirkte dann
noch abstoßender, was ihn noch mehr zum Außenseiter stempelte.
Mit
seinem Glasauge erklärte er sich auch andere seiner Eigenheiten - zum Beispiel
seinen Gerechtigkeitswahn. Als ihm auffiel, dass die Traveling-Regeln bei den
Stars unter den Basketballprofis anders ausgelegt wurden als bei schwächeren
Spielern, begnügte er sich nicht mit Protestrufen gegen den Schiedsrichter. Er
sah sich überhaupt keine Spiele mehr an. Die Ungerechtigkeit verdarb ihm die
Freude daran. Obwohl er ausgesprochen kämpferisch, kräftig gebaut, körperlich
fit und durchtrainiert war, machte er sich nichts aus Mannschaftssportarten.
Ein Grund dafür war sein Auge, denn bei diesen Disziplinen handelte es sich
meist um Ballsportarten, in denen ein Junge mit verringerter Tiefenwahrnehmung
und beeinträchtigtem peripheren Sehen nie richtig gut sein konnte. Auf den
weniger ballbezogenen Positionen im Football gab er sein Bestes, doch wenn er
zu hart mit einem anderen Spieler zusammenstieß, fiel sein Glasauge heraus.
Außerdem
fiel es ihm schwer, zwischen seinen physischen und psychischen
Beeinträchtigungen zu unterscheiden. Er vermutete, dass sein Glasauge beidem
zugrunde lag. Er konnte nicht ertragen, wenn Trainer ihre eigenen Kinder
bevorzugten. Schiedsrichter, die Verstöße nicht ahndeten, trieben ihn in den
Wahnsinn. Da schwamm er lieber, denn beim Schwimmen war praktisch keine soziale
Interaktion erforderlich. Es gab keine Mannschaftskameraden. Keine
Zweideutigkeiten. Man schwamm so schnell man konnte und gewann oder verlor.
Nach
einer Weile wunderte er sich gar nicht mehr darüber, dass er die meiste Zeit
mit sich allein verbrachte. Mit Ende 20 sah er sich als einen Menschen, der
keine Freunde hatte. Er hatte die Santa Teresa High School in San Jose besucht,
die UCLA, die University of California in Los Angeles und die Vanderbilt
University School of Medicine, ohne auch nur eine bleibende Beziehung zu
knüpfen. Die Freundschaften, die er pflegte, beschränkten sich auf den
Austausch von E-Mails. Die beiden Menschen, die er als echte Freunde
betrachtete und zusam men 20 Jahre lang kannte, hatte er insgesamt nur acht
Mal persönlich getroffen: »Es liegt nicht in meiner Natur, Freunde zu haben«,
sagte er. »Ich bin mir selbst genug.« Irgendwie hatte er es trotzdem geschafft,
zweimal zu heiraten. Seine erste Frau war koreanischer Abstammung und lebte am
Ende in einer anderen Stadt. (»Sie beschwerte sich oft darüber, dass mir der
Gedanke an eine Beziehung offenbar besser gefiel, als diese Beziehung auch
wirklich zu leben.«) Seine zweite Frau, mit der er noch verheiratet ist, ist
eine vietnamesische Amerikanerin, die er auf Match.com kennengelernt hatte. In seinem Match.com-Profil hatte er sich offen als
»Medizinstudenten mit nur einem Auge, seltsamen Umgangsformen und
Ausbildungsschulden von über 145 000 US-Dollar« bezeichnet. Seine obsessive
persönliche Ehrlichkeit war eng an seine Gerechtigkeitsmanie
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