Lewis, Michael
Aktienkurs eines beliebigen Unternehmens hatte. Der Aktienmarkt
war nicht nur transparent, sondern wurde überdies streng überwacht. Man durfte
von einem Wall-Street-Händler zwar nicht erwarten, dass er einem alles
Unvorteilhafte über eine Aktiengesellschaft mitteilte, doch man konnte davon
ausgehen, dass er einen weder unverhohlen anlügen noch dreist
Insiderinformationen gegen einen verwenden würde. Das lag vor allem anderen
daran, dass zumindest die theoretische Möglichkeit bestand, dass er dabei
erwischt wurde. Durch das Engagement von Millionen von Kleinanlegern auf dem
Aktienmarkt war dieser zum Politikum geworden. Es gab Gesetze und Vorschriften,
die ihm zumindest den Anschein von Fairness verliehen.
Auf
dem Rentenmarkt tummelten sich dagegen vorwiegend große institutionelle
Investoren. Daher fehlte ein ähnlicher populistischer politischer Druck. Selbst
als er den Aktienmarkt allmählich überragte, entzog sich der Rentenmarkt nach
wie vor einer ernst zu nehmenden Regulierung. Wer Anleihen verkaufte, konnte
so ziemlich alles behaupten, ohne eine Anzeige bei einer Behörde befürchten zu
müssen. Anleihenhändler konnten Insiderinformation unbesorgt nutzen, denn es
würde ohnehin keiner merken. Die Finanztechniker konnten sich immer komplexere
Wertpapiere ausdenken, ohne sich größere Gedanken um staatliche Regulierung
machen zu müssen - ein Grund, weshalb so viele Derivate auf die eine oder
andere Weise von Anleihen abgeleitet wurden. Am größeren, liquideren Ende des
Rentenmarktes - dem Markt für US-Schatzanleihen beispielsweise - lief der
Handel über den Bildschirm. Doch vielfach musste man herumtelefonieren in der
Hoffnung, einen anderen Rentenhändler zu finden, der genau für das betreffende
undurchsichtige Papier einen Markt hatte. Anders konnte man kaum festzustellen,
ob der von einem Rentenhändler genannte Preis auch nur annähernd angemessen
war. Die Undurchsichtigkeit und die Komplexität des Rentenmarktes waren für
große Wall-Street-Unternehmen ein enormer Vorteil. Der Rentenmarktkunde lebte
in ständiger Angst vor dem, was sich seiner Kenntnis entzog. Ein Grund für die
zunehmende Bedeutung der Rentenabteilungen an der Wall Street als Gewinnquelle
war: Auf dem Rentenmarkt war es noch immer möglich, astronomische Beträge mit
der Angst und der Unwissenheit der Kunden zu verdienen.
Daher
hatte es nichts mit Greg Lippmanns Person zu tun, als er beim Betreten von
Steve Eismans Büro gegen eine Mauer des Misstrauens prallte. »Und wenn Moses
persönlich durch diese Tür gekommen wäre und sich als Rentenhändler
vorgestellt hätte - Vinny hätte ihm ebenso wenig über den Weg getraut«,
erklärte Eisman.
Doch
wenn ein Expertenteam geplant hätte, einen Menschen zu züchten, der einen
Wall-Street-Kunden mit höchster Wahrscheinlichkeit das Fürchten lehrte, dann
wäre es vermutlich ein Typ vom Schlag Lippmanns geworden. Er war
Anleihenhändler bei der Deutschen Bank, doch wie die meisten Rentenhändler dort
- oder bei der Credit Suisse, UBS oder irgendeiner anderen ausländischen
Großbank, die auf den US-Finanzmärkten einen Fuß in der Tür hatten - war er Amerikaner.
Der schmale, drahtige Mann sprach so schnell, dass ihm keiner mehr folgen
konnte. Sein Haar hatte er glatt zurückgekämmt wie Gordon Gekko. Mit seinen
langen Koteletten sah er aus wie ein romantischer Komponist aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts oder ein Pornostar der siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts. Er trug auffällige Krawatten und sagte ungeheuerliche Dinge -
ganz offensichtlich ohne jedes Bewusstsein dafür, wie das auf einen wenig
geneigten Zuhörer wirkte. So verwies er beispielsweise immer wieder kryptisch
darauf, wie viel Geld er verdient hatte. Wer an der Wall Street arbeitete,
lernte in der Regel bald, dass das Letzte, worüber er mit Menschen aus anderen
Sparten sprechen sollte, die Höhe seiner Prämien waren. »Nehmen wir mal an, mir
wurden letztes Jahr sechs Millionen bezahlt«, hätte man von Lippmann hören
können. »Ich sage nicht, dass das stimmt. So viel war es ja nicht. Wie viel
weniger, sage ich nicht.« Noch bevor Sie die Chance hatten einzuwenden, dass
Sie ja gar nicht danach gefragt haben, würde er sagen: »So, wie das Jahr für
mich lief, mussten sie mir auf jeden Fall mehr als vier Millionen zahlen.«
Prompt hätten Sie gedacht: Also hat er zwischen 4 und 6 Millionen US-Dollar
verdient. Eigentlich hatten Sie ja über das New York City Ballet gesprochen.
Und plötzlich spielten
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