Lewitscharoff, Sibylle
getönten Scheiben geparkt.
Die Motorhaube ist offen, jemand hat den Kopf darunter gesteckt. Ein Junge
steht daneben und zupft an der Kordel seines Anoraks. Eine Reihe Hirsche läuft
um seine Brust. Rumen spricht ihn an, eine Antwort erhält er nicht.
Eigentlich
wird mir die Fahrerei heute zu lang, aber jeder Kilometer, der mich Sofia und
damit Berlin näher bringt, ist mir willkommen. Noch zwei Tage, und ich bin zu
Hause. Wozu Meer, wenn es am Meer hässlicher ist als in Berlin. Zum
wiederholten Male, aber dieses Mal ernster als sonst, fasse ich den Entschluß,
nie wieder zu verreisen. Wozu verreisen. Wo doch alle Welt mürrisch in den
Schlaf sinkt und sich mißgelaunt wieder erhebt. Was tun in widriger Lage, damit
die Zeit schneller verstreicht? Dösen und nach einiger Zeit wieder aufwachen.
Wir genehmigen uns einen Imbiß nahe der Autobahn. Wenn ich den Mut aufbrächte
und einfach loswanderte, querfeldein, mit einem Brotbeutel über der Schulter,
Jägerhütchen auf dem Kopf, mit einem Stecken hügelan und die Täler hinab,
Marschrichtung Berlin, dann brauchte ich mir keine Sorgen mehr zu machen, was
war und was sein wird, weil sich eine grundlegende Bedeutung in mich gesenkt
hätte, von der ich mein restliches Leben lang zehren könnte.
Sofort
etwas tun, was kein Mensch tut.
Trotz
wunder Füße wäre ich gerettet durch freisinniges Wald- und Feldschweben.
Vielleicht würde ich sogar Singen lernen. Es ist aber nicht ratsam, eine
Diskussion darüber anzuzetteln. Meine Mitfahrer scheinen unschlüssig zu sein,
wie sie sich benehmen sollen, vom Singenwollen sind sie weit entfernt, sie
kommen mir merkwürdig vor, wie Stillgestellte. Vielleicht verkörpern sie in
einem Drei-Personen-Tableau die weibliche Langeweile mit Schminkspiegelauf-
und Schminkspiegelzuklappen und die männliche Langeweile mit Zigaretteausdrücken
und Hinter-der-Straßenkarte-Verschwinden. Ich bin auserkoren, das Entstehen und
Verlöschen von Gefühlen zu behorchen, deshalb falte ich mir Segelohren aus
Serviettenpapier.
Ein
Rudel Hunde hilft aus der Verlegenheit. Junge, alte, alle hässlich, alle
schweinern. Einer mit mehr Fell hält sich abseits, er wird sofort weggebissen,
wenn er sich den Gästen nähert. Ich werfe ihm etwas zu, aber ihm fehlt der
Mumm. Die anderen reißen ihm den Brocken weg, und er weicht mit eingeklemmtem
Schwanz weiter zurück.
Ein
trotzkistischer Abweichler, sage ich zu Rumen, aber der hat für meine Spaße
kein Ohr und will aus seiner Karte gar nicht mehr heraus.
Bevor
wir einsteigen, bitte ich meine Schwester, mich bis Plovdiv ausnahmsweise vorne
sitzen zu lassen.
Aber
gern, aber ja! Sie kramt eifrig ihre zwei, drei Habseligkeiten aus dem
Handschuhfach und richtet sich hinten ein.
Rumen
wird munter und schnallt mich fest, wie man es mit Kindern oder unbehülflichen
Alten tut. Auf dem Kopilotensitz, da gehe es ernst zu. Trotzkistische
Abweichler würden nicht geduldet. Dem Fahrer dürfe man nicht ins Lenkrad
greifen. Auch mit der Karte ihm nicht vor den Augen herumfuchteln. Den Weg
finde er im übrigen allein.
Der
Grundgedanke des Fahrens ist, weiter geht's und immer weiter, doziert Rumen,
ungefähr so wie mit den Fünfjahresplänen. Selbst in Bulgarien. Mit dem
Unterschied, dass der Fahrer hier mit fünferlei Geschwindigkeiten zu kämpfen
hat und der vollständigen Abwesenheit von Verkehrsregeln.
Im
Moment muss nicht gekämpft werden, die frisch asphaltierte Straße ist wenig
befahren. Verkehrsschilder gibt es so gut wie keine. Dafür sind am Straßenrand
große Tafeln mit eindrucksvollem Wappen aufgepflanzt. Man könnte meinen,
Bulgarien sei ein Ableger von Sachsen-Coburg. Es handelt sich um eine Firma,
die von Simeon II. Sakskoburggotski gegründet wurde, dem wiedergefundenen
Zaren, den sich die Bulgaren in ihrer Verzweiflung als Ministerpräsidenten ins
Land geholt und schnell wieder abgewählt haben. Rumen haßt Simeon. Er hält ihn
für einen Bankrotteur, einen Nichtsnutz, einen Zocker, der sich nur zwecks
Übertragung von Liegenschaften auf das Bulgarien-Abenteuer eingelassen hat.
Besser, ich frage ihn nicht, was genau sich hinter den Reklameschildern verbirgt.
Ist
dir aufgefallen, zirpt meine Schwester von hinten, wie beherzt unser Mann das
Steuer mit beiden Händen hält. Er ist ein bulgarischer Entschlossenheitsfahrer.
Er
ist auch ein Entschlossenheitskämpfer. Wegen dir hat er sich gestern um ein
Haar mit dem Wirt geprügelt.
Rumen
kichert, er ist sehr einverstanden damit, dass wir uns so viel mit
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