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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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wurden? Andererseits habe
ich selbst mindestens vier Jahre lang an Lenin, Trotzki und Mao geglaubt. Mit
diesem Teil der Vergangenheit kann ich nicht mehr in Verbindung treten, Mitglied
bei Spartakus Bolschewiki-Leninisten ist ein fremder Mensch gewesen. Es kann
nicht daran liegen, dass ich jung war, dreizehn, als es losging. Im selben Jahr
haben mich die Bilder von James Ensor entzückt - helles, flammendes,
jubilierendes Entzücken, es währt und währt und führt zu einer Glücksschwemme,
wenn ich seinen Christuswuslern oder den verwunderten Masken in einem Museum
begegne. Auch die Stimme von Bob Dylan wohnt seither in meinem Ohr, der Bursche
mag singen, was er will. Diese beiden Leidenschaften und vielleicht noch zwei,
drei mehr haben sich zu meiner seelischen DNA verschränkt.
    Aber
ein Blick auf den Kopf von Lenin hätte genügen müssen, um sicher zu sein: um
Gottes willen, bloß nicht. Wie war's möglich, dem Brechttheater mit seiner öden
Typenwirtschaft zu verfallen? Was sollten diese blumigen, idiotischen
Maotexte? Und wieso Trotzki? Wegen des Eispickels? Als Gegenspieler von
Stalin? Oder weil ich, wie die meisten Linkserregten damals, auf der Suche nach
einem jüdischen Adoptivvater war und Adorno nicht verstand?
     
    Weiter!
     
    Frühstück auf der Terrasse mit besserem Kaffee als
üblich. Ausnahmsweise kein Plastiktisch, sondern ein
weißlich verwitterter Holztisch, weich abgegriffen, seine Maserung lädt dazu
ein, ihr mit dem Finger zu folgen. Meine Mitfahrer erscheinen ordentlich
gekämmt und wie mit Bürsten geschrubbt. In ihren Mienen bemerke ich Spuren von
Irritation. Vielleicht haben sie sich ein bisschen gezankt. Vielleicht
täusche ich mich, und sie leben schon so routiniert zusammen, als ob sie
verheiratet wären. Das dünne Tuchjäckchen, das meine Schwester heute morgen
trägt, wirkt ein wenig kindlich. Kalt heute.
    Rumen
freut sich auf den Winter, sagt meine Schwester, weil es dann bitterlich kalt
wird und er sich bewähren kann als Winterheld.
    Rumen
weiß nicht recht, was er darauf antworten soll, er kommt mir verfroren vor,
jedenfalls eher wie ein Sommerheld. Er senkt die Lider und streichelt eine
Katze, die ihren Kopf an seinem Schenkel reibt.
    Wir
verabschieden uns mit aufrichtig gefühltem Dank von den Wirtsleuten.
    Meine
Schwester benagt einen Apfel. Ich döse auf der Rückbank vor mich hin, zu lange
habe ich gestern gelesen, die Erinnerung daran schwebt im Ungefähren. Ein aus
dem Zusammenhang gerissenes Zitat taucht auf - der
Sex erfuhr die verdiente Anerkennung -, wir passieren
Blumenverkäufer, die versuchen, ihre Ware durch das Fenster hereinzureichen.
Dumpfig ist's heute. Weder heiß noch kühl. Aus einem Versteck erleuchtet die
Sonne das weithin gebreitete Grau.
    Ungeheurer
Druck der Vergangenheit.
    Vielleicht
haben die Sowjetleute so gräßlich versagt, weil sie Hilfe aus dem Reich der
extramundanen Beamten verschmähten, Kirchen abrissen, Glocken einschmolzen,
Priester erschossen. Hinter jedem natürlichen Beamten muss ein Engelhelfer
stehen, sonst entartet der Staat, denke ich, habe aber keine Argumente auf
Lager, wie diese These im Ernstfall zu verteidigen wäre. Ich glaube, ohne die
heimlich geleistete Hilfe eines Engels wird kein Fisch gar und kein Schnitzel
gut. Und zugleich, vielleicht mit dem leisen Erschauern ihrer Flügel, lehren
sie uns die geheime Melancholie aller Lebewesen achten; es nützt nichts,
jemanden umzubringen, lehren die Engel, denn keiner ist glücklich.
    An
der Küste zieht es sich hin, dieses trostlose, engelfreie Einerlei. Sinnlos,
aus dem Fenster zu schauen. Ich nicke ein und sehe weiß bestäubte Körper vor
mir, die sich am Boden winden, doch siehe da, unter ihren Bäuchen holen sie
Flügel hervor, ich empfange den Hinweis, dass es bulgarische Flügel sind, die
werden entknittert, und man hebt allgemein zu schüchternen Flugversuchen an.
Dann sehe ich quadratische Brote aus einem Toaster springen, während im
Nebenraum jemand im Arztkittel ein Lavabo reinigt.
    Burgas.
Ich muss ewig geschlafen haben. Mein Kopf hat Druckstellen. Im Genick
knirscht's. Erbärmliche Casinos, wohin das Auge blickt. Wir parken vor einem
Flachbau mit blinkender Roulettescheibe und stolpern lustlos aus dem Wagen.
Touristen streifen herum, zu Suchtrupps zusammengeschlossen. Vielleicht wissen
sie nicht, wonach sie suchen. Wir wissen es auch nicht und fassen den
Entschluß weiterzufahren, und zwar nach Plovdiv.
    Neben
unserem Daihatsu hat ein schwarzer Geländewagen mit

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