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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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Das Versteck flog
auf, alle Insassen der Wohnung wurden verhaftet. Die Tanten verschwanden im
Lager, unser Vater geriet, weil er die letzten Jahre in Deutschland verbracht
hatte, unter Spionageverdacht und kam ins Gefängnis.
    Im
Knast soll sich Wolfis Vater mit unserem Vater angefreundet und sich für ihn
eingesetzt haben, offenbar hatte Zankoff die besseren Verbindungen. Nach einem
knappen Jahr wurden beide entlassen, nachdem sie ein Papier unterschrieben
hatten, welches sie zur Mitarbeit im Geheimdienst verpflichtete. Sie kehrten
zusammen nach Stuttgart zurück, das heißt, unser Vater war der Rückkehrer,
Zankoff war vorher nie in Deutschland gewesen. Flucht oder legale Ausreise? Wie
sie über die Grenzen kamen und mit was für Papieren, da musste Wolfi allerdings
passen, auch wusste er nicht, ob der Geheimdienst nachgefaßt hatte, ob und wie
die bulgarischen Familien wegen der Ausreißer gestraft wurden.
    Ich
habe Tabakoff danach gefragt, sagte Wolfi, er muss was wissen, aber er hält
sich bedeckt.
    In
meinem Hirn tauchte das hässliche Wort Denunziant auf.
    Dein
Vater war ein netter Kerl, sagte Wolfi, aber etwas weich.
    Wir
saßen noch lang auf der Bank, bis wir vor Kälte schlotterten. Für den Rest der
Reise verkehrten wir freundlich, aber oberflächlich miteinander, das
Konspiratorische jener Nacht stellte sich nicht wieder ein. Es war ratsam,
Wolfi gegenüber vorsichtig zu sein, er war kein Mensch der Freundschaft. Meiner
Schwester erzählte ich nichts davon, vielleicht, weil ich mich schämte, so
bodenlos von ihr gesprochen zu haben.
    Langsam
wird es hier kühl, abendlich. Ich komme mir allmählich vor, als wäre der Rost
des Stuhls in meine Knochen gewandert. Den Strand entlang gehen nur noch wenige
Leute. Plastikflaschen liegen herum, Gummiteile, Kinderschaufeln, Sandalen,
gestrandete Quallen, eine verendete Möwe mit sandverkrustetem Kopf. Das Meer
ist ruhig, es trägt um diese Stunde nichts an Land und nimmt nichts fort. Keine
verlockende Muschel, um sie aufzuheben. Ein netter Anblick ist das vollkommen
gereinigte, geharkte und soeben gewässerte Gärtchen des Hotels. Auf der
Terrasse treffe ich den Wirt und die Wirtin, sie geben mir Käse und Brot, wir
plaudern ein bisschen auf Englisch, dann ziehe ich mich zurück.
    Heute
habe ich Lust auf einen Buchabend. Bei offener Balkontür liege ich im Bett und
lese im Stalinbuch. Lese, wie Martin Amis sich aufregt, dass die englischen
Kommunisten, unter ihnen sein Vater, so lange an Stalin glauben konnten, lese
mich hinein in die hochgradige Psychose, die 1937 bei der Februar-März-Sitzung
des Zentralkomitees geherrscht haben muss, wo sämtliche Redner um sich
schlugen mit den bekannten Vokabeln von der trotzkistischen Verschwörung, die
mit schmutzigen Pfoten alles unterwühlte. Niederschreien, Fäusteschwingen,
Unterbrechen, hektisches Applaudieren. Alle mit Fieberaugen, nur die
enggezogenen Augen Stalins blieben klar. Die abenteuerlichsten Spezifikationen
des Schädlingswesens tauchten auf, Wörter, die komisch wirkten, wüßte man
nicht, welche Folgen sie für die damit Belegten hatten. Doppelzüngler ist eigentlich ein hübsches Wort, bei dem man Nattern sich
ringeln und mit ihren Zünglein sich durch die Welt lispeln sieht. Allein unter
diesem Wort sind wohl etliche hundert, wenn nicht Tausende von Parteikadern
gefoltert und erschossen worden. Für die Millionen anderer, die verreckten,
standen andere Wörter zur Verfügung. Geschickt, wie Amis das Ganze
zusammenstellt, erzeugen die Wörter einen heißkalten Schauer. Einer schweren
kollektiven Paranoia müssen die Genossen verfallen sein mit anschließendem
Tötungsrausch, keinem heißen, einem kalten. Ein scheinvernünftiger Rausch, wo
jeder jeden verriet und alle gegeneinander mörderisch wirkten. Die Psychose
der kompletten Führungsschicht eines Landes entzieht sich dem Verstehen, sie
wirkt immer sonderbarer, je tiefer man in sie eintaucht und desto mehr Details
man ans Licht bringt.
    Tiefsee.
Für einen Moment denke ich an die bleichen Geschöpfe, die Kameraroboter
unlängst in den Schrunden und Spalten des Marianengrabens im Pazifik entdeckt
haben, sie kommen mir plausibler vor als die sowjetischen Genossen von 1937,
sympathischer sowieso.
    Mit
genüßlichem Grauen lese ich fort und fort, vielleicht, weil auf Nebenwegen
meine Abscheu vor den slawischen Sprachen gekräftigt wird. Fiskulturniki - gibt's albernere Wörter, als sie in der Sowjetunion
während der Herrschaft Lenins und Stalins erfunden

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