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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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nach
hinten weggeblasen wurde.
    Ich
war zu überrascht über diese Eröffnung, als dass ich etwas Passendes hätte
erwidern können. Wolfi half uns aus der Klemme, indem er ankündigte, er wolle
was zu trinken besorgen. Er steckte die Zigarre zwischen die Zähne und
schlingerte davon. Nach einiger Zeit kam er ohne Zigarre zurück mit einem Glas
Bier und einem Glas Cola, die er vorsichtig gegen die Brust gedrückt hielt, um
sich mit der anderen Hand abstützen zu können. Wolfi hatte sich gemerkt, dass
ich keinen Alkohol trinke. In der Cola schwamm ein Viertelscheibchen Zitrone.
Ich dankte gerührt.
    Hier
ist richtig was los, wir haben den optimalen Ausguck.
    Haben
wir, sagte Wolfi, so eine Nacht habe ich mir gewünscht.
    Und
sonst? Die Reise?
    Mein
Bruder ist ein Trottel, sagte Wolfi, kaum zu ertragen. Wir sehen uns nur alle
paar Jahre, wenn es unumgänglich ist.
    Er
ist ein Volltrottel, sagte ich maliziös, aber wo bleibt die Bruderliebe? Die
Zwillingsbruderliebe? Er fett, du dünn, wie kommt das?
    Wolfi
lachte, diesmal weniger abgehackt als sonst. Er hob zu längeren Sätzen an, den
längsten, die bisher von ihm zu hören waren.
    In
der Pubertät war ich auch fett. Aber mein Bruder hat danach das Maß für immer
überschritten. Mit seinem Mäus-letick ging er mir schon mit fünfzehn auf die
Nerven. Mein Bruder und seine Mäusle! Und seine doofen Kinder erst. Kinder,
Familie, der ganze Kram wie aus einer Seifenoper. Er wollte einfach nicht
wahrhaben, dass mich das kalt ließ, es - er machte eine versöhnliche Geste in
meine Richtung - es interessiert mich auch heute nicht. Nichts zu machen. Der
Trottel will es nicht wahrhaben. Deine Schwester ist übrigens auch ein Trottel,
ein schickes Exemplar von einem Trottel, das nichts begreift.
    Stimmt
nicht, sagte ich, da liegst du daneben.
    Als
Kind habe ich euch beneidet, ich fand, ihr hattet es besser. Eure Mutter hatte
was.
    Mir
fiel auf, dass ich in der Verteidigung meiner Schwester ziemlich lau geblieben
war: Sie ist, na ja, sie hat so etwas Über-Über-Überverantwortliches und ist
aus Verlegenheit manchmal etwas süßlich, aber täusche dich nicht, das Hirn
meiner Schwester funktioniert gut.
    Wolfi
hob sein goldenes Glas zum Wohle des Mondes, dessen Scheibe für einen
Augenblick frei und voll über uns leuchtete. Wir redeten und redeten und hauten
dabei unsere Geschwister in die Pfanne, nebenbei den kompletten Bulgaren- und
Schwabenverein gleich mit. Wobei Wolfi dazu neigte, die Bulgaren eine Spur
milder zu sehen, ich die Schwaben. Wir waren vergnügt und wurden giftig, bodenlos
giftig. Wolfi war der Unerschrockenere. Bis in die ekzembehafteten Speckfalten
und zerfressenen Haare baute er das Horrorkabinett seiner Familie auf. Und -
was ich ihm nie zugetraut hätte - er besaß die Gabe der Imitation. Herta, Lilo,
unsere Mutter, er machte sie alle perfekt nach, besonders Lilo hatte er noch
gut im Ohr, das runter- und wieder hochgezogene Taba-ko-off
am Appara-at mit den doppelten o- und a-Schleifen.
    Wieso
hast du den Schuldienst quittiert?
    Das
geht dich nichts an, antwortete er rüde. Nach einer Weile fügte er milder
hinzu: Ich habe mich in einen Siebzehnjährigen verliebt, und er sich in mich.
Zufrieden?
    Bin
ich. Wobei - wenn deine Altersangabe stimmt, kann ich's nicht weiter schlimm
finden. Vielleicht finde ich's nicht mal schlimm, wenn deine Altersangabe nicht
ganz stimmt.
    Schön
für dich. Lassen wir's dabei.
    Da
war er wieder, der aggressive Bursche, mit dem schwer auszukommen war. Der Mond
strahlte noch immer mit Kraft, Wolken fetzten und schieierten schwarz an ihm
vorüber. Wir verstummten für eine Weile.
    Wußtest
du, dass unsere Väter zusammen im Knast waren?
    Was?
Wo denn?
    In
Sofia natürlich, wo sonst. Du wußtest das nicht? Nein, keine Ahnung.
    Dass
er 46 nach Bulgarien fuhr, um nach seiner Familie zu sehen, und dann eine
Zeitlang verschollen blieb?
    Erinnere
mich dunkel an die Geschichte.
    Da
haben sie ihn kassiert. Und meinen Vater zufällig auch, aber aus anderen
Gründen. Schwarzhandel, wer weiß.
    Wolfi
erzählte bereitwillig. Sein Wissen war spärlich, aber selbst das wenige ließ
mein Herz klopfen. Wolfi zufolge hatte unser Vater in Sofia nicht bei seinen
Eltern, sondern bei den Tanten gewohnt, die sich eine größere Wohnung in der
Innenstadt teilten. (Das mussten Mila und Zweta gewesen sein.) Die Tanten
hielten in einer Kammer einen jungen deutschen Soldaten versteckt, den sie beim
Einmarsch der Russen verletzt im Hausflur gefunden hatten.

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