Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
geworden. Neben den klassischen Halluzinogenen wie LSD, Psilocybin und Meskalin gibt es eine Vielzahl von natürlichen und synthetischen Stoffen, die auf unterschiedlichen pharmakologischen Wegen eine relativ ähnliche Wirkung entfalten: Zu den körperlichen Folgen gehören Schwindel, Schwäche, Benommenheit und Sehstörungen. Die Wahrnehmung verändert sich, auf Farben und Formen ist kein Verlass mehr, und es können sich Synästhesien einstellen, also die Wahrnehmung farbiger Töne oder viereckiger Gerüche. Hinzu kommt das Gefühl zu träumen, eine teils drastisch veränderte Zeitwahrnehmung und im Extremfall der Eindruck, die ganze Persönlichkeit löse sich auf wie ein Zuckerwürfel im Kaffee.
Obwohl Halluzinogene zum Teil seit vielen Jahrhunderten in Religion und Freizeit im Einsatz sind, wissen wir nicht viel darüber, was sie mit dem Gehirn anstellen. Bekannt ist, dass sie allesamt an Rezeptoren für Neurotransmitter im Gehirn andocken. Neurotransmitter sind Botenstoffe, mit denen der Spalt zwischen den Ausläufern zweier Nervenzellen überbrückt wird. Anstelle dieser Botenstoffe schalten sich die Halluzinogene ein und benehmen sich wie pflichtvergessene Postboten, die jeden Brief öffnen und mit verstellter Handschrift ganz andere Dinge hineinschreiben. Seit den 1970er Jahren sind einige Fortschritte in der Identifikation der zuständigen Rezeptoren gemacht worden, aber wie es durch diesen Vorgang zu den beschriebenen Wirkungen auf das Gehirn kommt, ist nicht besonders gründlich erforscht.
Interessant an den Halluzinogenen ist jedoch nicht nur, dass wir wenig über sie wissen, sondern auch, warum das so ist. Nachdem Albert Hofmann 1943 versehentlich das LSD entdeckt hatte, folgten zwei fruchtbare Jahrzehnte, in denen einige tausend wissenschaftliche Veröffentlichungen über die Wirkungsweise und die therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten der Halluzinogene erschienen. Ab Mitte der 1960er Jahre verschlechterte sich der Ruf dieser Substanzen in der Presse drastisch, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass sich ihr Konsum zum Massenphänomen auswuchs und die durchschnittliche auf der Straße erhältliche LSD-Dosis damals etwa zehnmal so hoch lag wie heute. Die Konsumenten wurden daher häufig einem unerwarteten psychischen Vollwaschgang einschließlich Schleudern unterzogen. US-Politiker vermuteten zudem einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Drogenkonsum und den neuen Gewohnheiten ihrer Staatsbürger, die plötzlich lange Haare tragen, Flaggen verbrennen und homosexuell sein wollten.
Im Laufe der 1960er Jahre wurden die gebräuchlichsten Halluzinogene zunächst in den USA immer strenger reguliert und 1970 schließlich ganz verboten; die meisten westlichen Länder zogen mal mehr, mal weniger freiwillig nach. Fachleute mussten sich entscheiden, ob sie auf Kosten der wissenschaftlichen Karriere weiter an den Halluzinogenen forschen oder lieber unauffällig das Thema wechseln wollten. Wahlweise konnte man es auch halten wie die US-Psychiater Jerome Levine und Arnold M. Ludwig, deren Studien in den 1960er Jahren LSD-freundliche, nach dem Wandel der öffentlichen Meinung aber LSD-kritische Ergebnisse erbrachten. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden kaum Genehmigungen für neue Studien erteilt, erst dann kam wieder etwas Schwung in die Halluzinogenforschung. Heute gilt als gesichert, dass die gebräuchlichen Halluzinogene weder zu Organschäden noch zu körperlicher oder psychischer Abhängigkeit führen.
Diese schwierige Situation erklärt auch, warum in den letzten Jahrzehnten so wenig am Menschen und so viel an Ratten geforscht wurde. Das ist zwar vermutlich weniger anstrengend, als Halluzinogen-Experimente am Menschen durchzuführen, weil die Ratten dabei nicht die ganze Zeit herumkichern und über Gott reden wollen. Dafür können Ratten aber auch keine Auskunft über die Art der Drogenwirkung geben. Für die meisten heute bekannten synthetischen Halluzinogene existieren nur genauere Angaben zur Wirkungsweise, weil ihr Entdecker, der US-Chemiker Alexander Shulgin, sie in einer langen Reihe von Selbstversuchen getestet und beschrieben hat.
Übrigens nehmen Labortiere im Unterschied zu vielen Menschen nicht gern Halluzinogene ein, wenn man ihnen die Wahl lässt – und das, obwohl sie vor Drogen ohne halluzinogene Wirkung wie Kokain, Heroin, Amphetaminen, Nikotin und Alkohol nicht zurückschrecken. Man braucht, so die Vermutung, ein hochentwickeltes Gehirn, um das unterhaltsam zu finden, was
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