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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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Situation nicht schlafen können. Nach zwei bis vier Wochen Schlafentzug stirbt die Ratte aus unklarem Grund. Naheliegende Todesursachen wie Infektionen oder Herzversagen scheinen nicht im Spiel zu sein. Kritiker wenden allerdings ein, dass sich die Folgen der Schlaflosigkeit – ob für das Überleben oder auch nur für Stoffwechsel- und Gehirnfunktion – in diesen Experimenten nicht sauber von den Folgen der für die Ratte anstrengenden Ausnahmesituation unterscheiden lassen. Schlafentzug sei nun mal nicht einfach das Gegenteil von Schlaf, sondern ein abnormaler Zustand, aus dem man nicht viel über die Funktion des Schlafs lernen könne.
    Die naheliegendste Vorstellung von dieser Funktion des Schlafs ist die sogenannte Erholungs- oder Reparaturtheorie: Wenn wir erschöpft sind, müssen wir schlafen, und da wir uns nach dem Aufwachen weniger müde fühlen, wird in dieser Zeit schon irgendeine Abnutzung im Körper rückgängig gemacht werden. So ganz kann das aber nicht stimmen. Zum einen müsste, wenn diese Hypothese zuträfe, eigentlich gerade die Giraffe nach ihrem 22-Stunden-Tag besonders lange schlafen. Das ist aber nicht der Fall: Je länger ein Tier wach ist, desto kürzer ist seine Schlafphase, denn Tiere halten sich (anders als etwa Programmierer) strikt an einen 24-Stunden-Tag. Zum anderen gibt es kaum Prozesse im Körper, von denen man sicher weiß, dass sie im Schlaf rückgängig gemacht werden. Zwar werden in den Schlafphasen III und IV vermehrt Wachstumshormone ausgeschüttet, und einige Indizien sprechen für einen – bisher unklaren – Zusammenhang zwischen Schlaf und der Regulation des Immunsystems. Der Nachweis wesentlicher Reparaturvorgänge ist aber bisher nicht gelungen.
    Der Neuroendokrinologe Jan Born merkt dazu an, dass es zur Erholung nicht nötig wäre, das Bewusstsein abzuschalten. Erstens ist jedes Lebewesen in diesem Zustand durch Fressfeinde gefährdet, zweitens ist das Gehirn im Schlaf – insbesondere in der REM-Phase – gar nicht untätig, sondern sehr aktiv. Born vertritt die Gedächtnistheorie, nach der im Schlaf Lerninhalte verfestigt werden. Es gibt zahlreiche Experimente, in denen Versuchspersonen oder -tiere nach Schlafentzug bei verschiedenen Gedächtnisleistungen schlechter abschneiden. Aus diesen Experimenten lässt sich zwar eindeutig ableiten, dass Schlafentzug den Gedächtnisfunktionen abträglich ist, das beweist aber noch nicht umgekehrt, dass im Schlaf wichtige Gedächtnisprozesse ablaufen. Manche Forscher vermuten, dass Wissen sich nur schwer direkt ins Langzeitgedächtnis abspeichern lässt, sondern stattdessen erst zwischengespeichert und dann im Schlaf quasi auf die Festplatte geschrieben wird. Wenn es für diesen Prozess von Bedeutung ist, dass währenddessen keine neuen Informationen eingehen, wäre es tatsächlich sinnvoll, den Körper vorübergehend am Beobachten, Schnüffeln und Herumlaufen zu hindern. Leider ist die Theorie nicht ganz leicht zu überprüfen. Insbesondere wäre es hilfreich, wenn man mehr darüber wüsste, wie das Gedächtnis überhaupt funktioniert.
    Borns Mitarbeiter Ullrich Wagner und Steffen Gais konnten 2004 immerhin erstmals belegen, dass Schlafen den Erkenntnisprozess befördert: Ihre Versuchspersonen mussten ein Problem bearbeiten, für das es einen mühsamen und einen einfachen Lösungsweg gab. Von den Testpersonen, die zwischen zwei Anläufen schlafen durften, kamen im Vergleich zu den wach gebliebenen mehr als doppelt so viele auf die simple Lösung. Wer schläft, anstatt zu arbeiten, spart also womöglich sogar Zeit. Schade, dass sich die Schlafforschung diesem wichtigen Einsatzfeld, der Rechtfertigung des Büroschlafs, nicht noch viel öfter widmet.
    Die Gedächtnishypothese ist in ihren Grundzügen mittlerweile in verschiedenen Labors und mit unterschiedlichen Methoden belegt worden, aber nicht unumstritten. Ihren Hauptkritikern Jerome Siegel und Robert Vertes zufolge müsste es für eine so häufig untersuchte Hypothese inzwischen schlüssigere Belege geben. Um widersprüchliche Ergebnisse zu erklären, sei die ursprüngliche These bis zur Nutzlosigkeit verwässert worden, indem je nach Versuchsausgang eben nur bestimmte Formen des Gedächtnisses (etwa das Gedächtnis für Bewegungsabläufe) betroffen sein sollen, andere aber nicht.
    Dass zumindest der REM-Schlaf keine Voraussetzung dafür zu sein scheint, sich Dinge zu merken, zeigt das – zum Glück seltene – Beispiel von Menschen, die aufgrund spezieller

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