Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
Gehirnverletzungen ohne REM-Schlafphasen leben. Auch die zahlreichen Patienten, die als Nebenwirkung gängiger Mittel gegen Depressionen ganz oder weitgehend auf REM-Schlaf verzichten müssen, leiden offenbar trotzdem nicht unter nennenswerten Gedächtnisproblemen. Früher ging man davon aus, dass Träume nur im REM-Schlaf vorkommen und eine wichtige Funktion haben, heute nimmt man an, dass in mehreren, womöglich in allen Schlafphasen geträumt wird. Allerdings ist unklarer denn je, welchem Zweck das Träumen dient. Freuds These, dass im Traum verdrängte Wünsche und Emotionen ausgelebt werden, ist ebenso aus der Mode gekommen wie die Vermutung, Träume seien nur bedeutungslose Nebenprodukte der Gehirntätigkeit im Schlaf. Träume, so lautet kurz zusammengefasst der Forschungsstand, haben vermutlich irgendeine Funktion. Welche das sein könnte, ist unbekannt. Vielleicht sollen sie ja nur wie Filme auf Langstreckenflügen verhindern, dass man sich beim Schlafen langweilt.
Aber zurück zur Funktion des Schlafs: Siegel vergleicht sie mit der des Winterschlafs und weist darauf hin, dass dessen Aufgabe nicht besonders umstritten ist. Er dient dazu, das Tier in einer Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, in der es ohnehin nichts tun könnte, weil draußen Schnee liegt. (Winterschlaf ersetzt übrigens nicht den normalen Schlaf. Zumindest manche winterschlafenden Tiere müssen, man mag gar nicht darüber nachdenken, hin und wieder mühsam aus dem Winterschlaf erwachen und sich aufwärmen, um regulär zu schlafen.) Fleischfresser schlafen artenübergreifend am längsten, Pflanzenfresser am kürzesten, und Allesfresser, darunter auch die Menschen, liegen im Mittelfeld. Ein Tier, das den ganzen Tag grasen und sich vor Fressfeinden hüten muss, hat nicht viel Zeit zum Schlafen, während ein Löwe es sich nach dem Verzehr einer Antilope leisten kann, den Rest des Tages die Augen zuzumachen. Und da wir keine 24 Stunden brauchen, um das Nötigste zu erledigen, ist es sinnvoll, den Körper zu einer Tageszeit, in der er mehr Schaden anrichtet als nützt, einfach in einer Ecke abzulegen. Bei kleinen Tieren, deren Körperoberfläche relativ groß im Verhältnis zu ihrem Gewicht ist, kommt vermutlich eine Energieersparnis durch das Herumliegen in einem warmen Nest hinzu. Für diese These scheint auch zu sprechen, dass bei Meeressäugern die Schlafdauer im Laufe des Lebens nicht ab-, sondern zunimmt: Im Meer gibt es weder geschützte Ecken, in denen die Tiere ungefährdet ihre Jugend verschlafen können, noch Abgründe, in die man im Dunkeln stolpert.
Eine verwandte Hypothese besagt, dass die Schlafdauer genetisch so eingerichtet ist, dass ein ökologisches Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann. Raubtiere schlafen demnach länger als ihre Beute, um so eine «Überweidung» ihres Jagdgebietes zu vermeiden. Auch hier dient der Schlaf also vor allem der Vermeidung anderer, ungünstigerer Verhaltensweisen. Man kann sich gut vorstellen, wie die Programmierabteilung der Evolution auf solche Ideen verfällt, anstatt ein aufwändiges Feature wie die Vernunft einzubauen: «Schalten wir das Tier doch einfach vorübergehend ab, dann kann es wenigstens keinen Unfug anstellen.»
Der heutige Hauptgrund für das Schlafen muss allerdings gar nicht derselbe Grund sein, aus dem der Schlaf sich einmal entwickelt hat. Vielleicht diente das Schlafen ja anfangs einem bestimmten Zweck, im Laufe der Evolution kamen aber diverse Aufgaben hinzu, die man – wo der Körper schon so tatenlos herumlag – bei der Gelegenheit gleich mit erledigen konnte. Es spricht jedenfalls manches dafür, dass es einen guten Grund für das Schlafen gibt: Schlaf nimmt immerhin sehr viel Zeit im Leben ein, er verläuft artenübergreifend erstaunlich ähnlich, und zumindest Ratten sterben, wenn er ihnen vorenthalten wird. Wer diesen Grund klar benennen könnte, dem wäre, so der Schlafforscher James Krueger, ein Nobelpreis ziemlich sicher.
Einige Forscher wenden gegen alle diese Hypothesen ein, die Frage «Warum schlafen wir?» sei bereits falsch gestellt: Man müsse sich vielmehr fragen, warum wir eigentlich hin und wieder wach werden. Schlaf sei der natürliche Daseinszustand, den wir mit vielen schlichter gebauten Tierchen sowie den Zellen unseres eigenen Körpers gemein haben. Von Zeit zu Zeit unterbrechen wir ihn, um Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu holen oder unsere Art zu erhalten. Praktischerweise ist die Frage, warum wir aufwachen, viel leichter zu beantworten als
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