Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
einige Gesetzmäßigkeiten erkannt und beschrieben. Anscheinend nimmt die durchschnittliche Größe der Tiere einer Art, über lange Zeiträume betrachtet, normalerweise zu. Dieser Sachverhalt wird nach dem Paläontologen Edward Drinker Cope als «Copes Regel» bezeichnet. Sie ist nach wie vor umstritten, gewinnt aber in den letzten Jahren neue Anhänger. Eine Erklärung dieses Wachstumstrends fehlt allerdings. Vermutlich trägt eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren dazu bei: Größere Weibchen produzieren zum Beispiel mehr Eier, und größere Männchen haben mehr Erfolg bei der Fortpflanzung, kurz: Groß sein ist generell eine gute Strategie, das Überleben zu sichern.
Aber wenn Größe so viele Vorteile bietet, warum lässt sich dann bei vielen Tierarten überhaupt kein kontinuierliches Größenwachstum nachweisen? «Warum ist Copes Gesetz so wenig gesetzmäßig?», fragen sich die Forscher ratlos. Und warum gab es früher so ansehnliche Tiere wie den drei Tonnen schweren Riesenwombat in Australien oder den dreieinhalb Meter langen Riesenbiber in →Amerika, die heute ausgestorben sind? Wenn Copes Regel zutrifft, muss mindestens ein zweiter Mechanismus existieren, der dem Größenwachstum ein Ende macht. Die Paläobiologen Blaire van Valkenburgh, Xiaoming Wang und John Damuth stellten 2004 ein Erklärungsmodell zumindest für manche Teilbereiche vor: In den letzten 50 Millionen Jahren sind einige erfolgreiche große Raubsäuger entstanden und wieder ausgestorben, ohne dass man so genau wüsste, warum. Van Valkenburgh, Wang und Damuth zufolge spezialisierten sich die Tiere, wie man an ihren fossilen Gebissen ablesen kann, mit zunehmendem Größenwachstum auf eine reine Fleischernährung. Diese Spezialisierung wurde ihnen immer wieder zum Verhängnis, wenn sich die Umweltbedingungen änderten, während Allesfresser sich den neuen Verhältnissen flexibel anpassen konnten. Denkbar wäre also, dass es sich für das einzelne Tier lohnt, wenn es seine Artgenossen überragt, und auch ganze Arten kurzfristig vom Größerwerden profitieren, mittelgroße Arten aber auf lange Sicht bessere Chancen haben. Und wer klein bleibt, profitiert nicht zuletzt davon, dass alles schneller geht: Groß werden dauert seine Zeit, sodass die Wahrscheinlichkeit steigt, vor Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters Parasiten oder Fressfeinden zum Opfer zu fallen.
Ohnehin können Tiere auch in guten Zeiten nicht beliebig groß werden. Für Insekten, die durch Tracheen atmen, ist der Sauerstoffgehalt der Luft der limitierende Faktor, weil ab einer bestimmten Körpergröße nicht mehr genug Sauerstoff ins Körperinnere gelangt; deshalb haben etwa Libellen heute keine Spannweite von 70 Zentimetern mehr wie im Oberen Karbon – damals enthielt die Erdatmosphäre mehr Sauerstoff als heute. Tiere ohne Tracheen haben dafür andere Probleme, denn mit zunehmender Körpermasse wachsen ihre Lebenshaltungskosten. Bei der Ernährungsumstellung von kleinen Beutetieren auf große steigt der Energiebedarf von Raubtieren überproportional an, denn jetzt genügt es nicht mehr, der Beute entspannt aufzulauern oder sie einfach einzusammeln, sondern sie muss gejagt und erlegt werden. Die Zoologen Chris Carbone, Amber Teacher und Marcus Rowcliffe berechnen daher für Raubsäuger ein maximal mögliches Körpergewicht von 1100 kg (zum Vergleich: Heute wiegt der größte Raubsäuger, der Eisbär, etwa 500 kg). Die sehr viel größeren Raubsaurier, so vermuten sie, kamen wohl mit einem wesentlich sparsameren Stoffwechsel durchs Leben. Die geschätzte Stoffwechselrate der größten Raubsaurier, die bis zu neun Tonnen wogen, entspricht der eines Säugetiers mit einem Gewicht von etwa einer Tonne. Daran schließt sich die verwandte Frage an, ob es eine optimale Größe gibt, die alle Tiere annehmen würden, wenn sie keine Fressfeinde und jederzeit genug zu essen hätten. Manche Fachleute nehmen an, dass Tiere unter diesen idyllischen Bedingungen langfristig auf eine Körpermasse von einem Kilogramm oder weniger zusammenschnurren würden. Andere glauben gar nicht an eine solche optimale Größe.
Die Größe eines Tiers hängt irritierenderweise auch mit der Größe der Landmasse zusammen, auf der es wohnt. Das bedeutet nicht, dass in Luxemburg ganz, ganz kleine Eichhörnchen leben, sondern dass große Arten offenbar schrumpfen, wenn sie auf Inseln ziehen oder durch das Verschwinden einer Landbrücke zu Inselbewohnern werden. So gab es noch bis vor etwa 2500 Jahren
Weitere Kostenlose Bücher