Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
Ökonom Robert Frank liefert eine mögliche Antwort: Wir müssen uns ständig selbst beweisen, wie großzügig wir sind, um das Gewissen zu beruhigen und das Karma zu verbessern. Dies führt, so der Soziologe Diego Gambetta, der sich ansonsten unter anderem mit der Mafia befasst, zu einer überraschenden Vorhersage: Menschen, die ohnehin großzügig sind, sollten weniger Trinkgelder zahlen als geizige, weil sie es ja nicht mehr nötig haben. Das wurde zwar noch nicht überprüft, stimmt aber wohl eher nicht. Und überhaupt, so argumentiert Michael Lynn auf bestechende Art und Weise, ist diese Theorie zu kreativ, um wahr zu sein.
Am Ende bleibt vielleicht doch nur «weil man es so macht» übrig. Womöglich folgt der Trinkgeldzwang lediglich aus dem Wunsch, in der Masse unterzutauchen und sich genauso zu verhalten wie alle anderen, das ist schließlich das Einfachste. Aber auch stark individualistisch eingestellte Bevölkerungsgruppen zahlen Trinkgelder, und zwar nicht weniger als andere. Andererseits hat es zusätzliche unangenehme Konsequenzen, wenn man kein Trinkgeld zahlt und so mit der Konvention bricht: Angestellte sehen einen verärgert an, man fühlt sich schlecht und beschämt, vielleicht sogar dann, wenn man sich sonst gar nicht um seine Mitmenschen schert. Und auch wenn der einzelne Akt des Trinkgeldgebens unvernünftig ist, als Massenphänomen ist es durchaus sinnvoll, denn Trinkgelder geben insgesamt einen Anreiz zur Verbesserung der Bedienung. Aber ob der Einzelne, satt und zufrieden nach dem Abendessen im Restaurant, sich Gedanken über die gesellschaftlichen Konsequenzen seines Handelns macht?
Es gibt demnach verschiedene plausible Gründe, nicht mit der gesellschaftlichen Norm zu brechen und weiterhin 10 bis 15 Prozent Trinkgeld zu zahlen, auch wenn noch lange nicht geklärt ist, warum diese Norm überhaupt existiert. Und es gibt außerdem gute Gründe, das Phänomen weiter unter die Lupe zu nehmen. Man lernt dabei, dass sich Menschen in wirtschaftlichen Entscheidungen gar nicht so rational und egoistisch verhalten, wie das eine ordentliche Wirtschaft von ihnen verlangt, also genau abwägen, wie viel sie zahlen und was ihnen das bringt. Stattdessen ist ein unübersichtlicher Mix aus tradierten Verhaltensweisen, verschiedenen Gefühlsregungen und ein paar rationalen Bestandteilen am Werk.
Übrigens wird in manchen Ländern gar kein Trinkgeld gezahlt, in China zum Beispiel. Wiederum sind die Gründe unklar. Es kann jedoch kaum mit der jahrzehntelangen kommunistischen Erziehung zu tun habe, denn im kapitalistischen Singapur und in Australien ist es ganz genauso. Manchmal runden asiatische Taxifahrer den Preis sogar zu ihren Ungunsten ab, wodurch ein negatives Trinkgeld entsteht – der Bedienstete zahlt dem Kunden Trinkgeld. Aber auch im Trinkgeldparadies Amerika regen sich traditionell Widerstände. Im Jahr 2006 etwa machte der prominente Restaurantbesitzer und Kochbuchautor Thomas Keller Schlagzeilen, als er in seinem New Yorker Restaurant Trinkgelder prinzipiell verbot. In den darauffolgenden Debatten wird die Praxis des Trinkgeldgebens abwechselnd als «amerikanisch» oder als «unamerikanisch» bezeichnet, wohl weil es niemand so genau weiß.
Prägnant zusammengefasst wird der wissenschaftliche Erkenntnisstand in der Anfangsszene des Tarantino-Films «Reservoir Dogs». Am Ende eines langen Frühstücks im Café erklärt Steve Buscemi alias «Mr. Pink», als es ums Bezahlen geht, er glaube nicht an Trinkgelder, und löst damit eine lange Diskussion aus. Ausführlich erklärt er unter Verwendung vieler der oben beschriebenen Zusammenhänge, warum Trinkgelder sinnlos und unvernünftig sind. Der Trinkgeldzwang erweist sich jedoch als stärker, denn am Ende bezahlt Mr. Pink trotzdem seinen Anteil, und zwar aus Dankbarkeit, denn schließlich musste er schon nichts für die Rechnung geben. Irgendeinen Grund findet man ja immer.
Tropfen
Wie sieht eine Träne wirklich aus? Nicht sehr romantisch. Erst wie eine Orange, in die eine Stricknadel gespießt ist, und später wie ein Hamburger.
Ian Stewart, Mathematiker
Ein tropfender Wasserhahn könnte wesentlich weniger lästig sein, wenn man wüsste, wie die Tropfen entstehen. So aber liegt man nächtelang wach und wird mit jedem Tropfgeräusch aufs Neue daran erinnert, wie bedrückend wenig man von der Welt versteht. Die gute Nachricht: In stark idealisierten Fällen können Mathematiker die Tropfenbildung heute einigermaßen erklären. Zwei schlechte
Weitere Kostenlose Bücher