Liberty 9 - Sicherheitszone (German Edition)
niedergedrückten Gemütslage besseren Trost schenken können als diese langsame, aber unaufhaltsame Entfaltung von strahlender Lebenskraft.
Sie wusste natürlich, dass all diese wunderbaren Lichteffekte nicht wie von Zauberhand den schweren Steinquadern der Mauern und des Gewölbes entströmten. Der Kreuzgang der Lichtwelten war, ähnlich wie die Sim-Kabinen im Schwarzen Würfel und die Rides in der Tube, eine hochtechnische und computergesteuerte Anlage.
Als sie noch dem Gamma-Level angehört hatte und der zentrale Lichtgenerator wegen einer Reparatur eine Zeit lang abgeschaltet gewesen war, hatte sie einmal einen längeren Blick in den Kreuzgang geworfen. Dabei hatte sie festgestellt, dass Bodenplatten, Wände, Decke und selbst das Glas in den hohen Fenstern, die zu einem kleinen Innenhof mit einem Springbrunnen hinausgingen, von einer dünnen Folie überzogen waren. Und diese Folie war von einem unglaublich feinen Netz winziger Sensoren und Fotozellen durchzogen.
Nicht wenige Electoren trauten diesen Sensoren wahre Wunderkräfte zu. Kendira gehörte nicht dazu. Dass diese Sensoren in der Lage sein sollten, die Stimmung eines Besuchers anhand von Blutdruck, Augenbewegungen und der chemischen Zusammensetzung seiner natürlichen Körperausdünstungen zu ermitteln und blitzschnell ein Lichtprogramm aufzurufen, das trübsinnige Stimmungen aufheiterte und angespannte, nervöse Naturen beruhigte, das erschien ihr wenig glaubhaft.
Beweise dafür gab es jedenfalls keine, und die Oberen dachten gar nicht daran, ihnen in dieser Sache eine klare Antwort zu geben. Fragen danach wichen sie immer geschickt aus. Allein schon deshalb hielt sich unter den Electoren das Gerücht, die Sensoren könnten im Gemüt eines jeden, der den Kreuzgang betrat und sich den zahllosen unsichtbaren Messströmen aussetzte, so deutlich lesen wie sie die gespeicherten Texte auf dem Screen ihrer Tablets.
Kendira hielt das für Unsinn. So etwas Abwegiges konnten nur sehr naive Naturen glauben. Wie sollte das auch möglich sein, wenn sich mehr als eine Person in einem der vier Gänge aufhielt? Und das war, bei einem Konvent von 192 Electoren, ja zumeist der Fall. Auch jetzt entdeckte sie weiter hinten im Gang zwei andere Electoren. Sie saßen auf einer Bank in einer der kleinen Nischen, die alle fünfMeter in die Innenwand eingelassen waren.
Kendira hatte sich hinter dem Eingang automatisch nach rechts gewandt, wie es die Regel für die Rundgänge vorschrieb. Diese verlangte zudem von jedem Elector, dass er absolutes Schweigen wahrte und auch jedes andere Geräusch tunlichst vermied. Der Kreuzgang der Lichtwelten sollte ein Ort des Träumens und der Besinnung sein und manchmal eben auch ein Ort, wo man in der Stille und im sanften Tanz der Lichter Kraft suchen und inneren Frieden finden konnte.
Kendira schritt langsam den Gang hinunter, hinein in das Licht des aufgehenden Tages. Als sie an den beiden Electoren in der Nische vorbeikam, wandte sie nicht den Kopf, sondern gab sich den Anschein, sie nicht zu bemerken, so wie es sich hier im Kreuzgang gehörte. Aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass es sich bei ihnen um einen Jungen und ein Mädchen aus dem Beta-Level handelte. Sie hielten sich an der Hand und das Mädchen hatte seinen Kopf an die Schulter des Jungen gelegt.
Augenblicklich überfiel Kendira der sehnsüchtige Wunsch, auch ihre Hand läge jetzt in der eines Jungen, der sie so liebte, wie sie war, und bei dem sie sich geborgen fühlte– und den sie genauso lieben konnte. Und zwar wirklich lieben. Denn das, was zwischen ihnen und Byrd gewesen war, hatte mit Liebe wenig zu tun gehabt. Es war nur eine Schwärmerei gewesen, die einen bitteren Geschmack und einige Narben zurückgelassen hatte.
Unwillkürlich ging sie mit schnellerem Schritt weiter. Sie gelangte an das Ende des Gangs, wo es links um die Ecke in den zweiten Trakt ging. Sie passierte einen ähnlich dichten Vorhang wie im Vorraum des Kreuzgangs und hatte dahinter das Gefühl, hinaus auf eine Sommerwiese mit blühenden Wildblumen getreten zu sein. Was selbstverständlich ebenso das Produkt ihrer Fantasie war wie die bunten Schmetterlinge und Kolibris, die sie über die Wiese schweben zu sehen meinte. Was sie tatsächlich sah, das waren warme, ineinander fließende Farben, die sich über einem grüngelben Untergrund sanft bewegten und in flüssigen Übergängen immer neue Muster bildeten. Und diese Muster waren es, die ihr Gehirn anregten, in ihnen Blumen, Schmetterlinge
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