Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Bartosz nun nicht mehr geben konnte, bekamst du. Aber sie tröstete sich damit, dass Bartosz dadurch überlebt hatte und sie in absehbarer Zeit wieder bei ihm wäre, aber…«
»Aber was?«, fragte Ernesto.
Natasha, dachte er wie gelähmt. Oh, Nat, liebe, liebe Nat…
»Bartosz brauchte Nachoperationen – und teure Medikamente. Stanley hatte das vorausgesehen und finanzierte alles – dafür musste Natasha bleiben und dafür sorgen, dass Sondra sich still verhielt, ihre Rolle als gut aussehende, devote Ehefrau spielte – und vor allen Dingen, niemals wieder damit drohen konnte, der Öffentlichkeit zu erzählen, welche sexuellen Vorlieben der allseits beliebte und hoch angesehene Dr. Merrill hatte. Niemand durfte je erfahren, was Dr. Merrill der kleinen Ruby Kyriacou über Jahre hinweg angetan hatte und wie brutal er vorgegangen war.«
»Aber wieso schwieg sie, verdammt?«, brüllte Ernesto los wie ein Wahnsinniger. »Wieso zeigte sie – dieses Monster nicht an? WAS WAR LOS MIT IHR?«
»Ernesto, sie konnte nicht«, sagte Chazza leise. »Stanley hielt sie für Wochen nach deiner Geburt in einer Art Dämmerschlaf. In dieser Zeit verabreichte er ihr – und wenn er in seiner Klinik war – übernahm Natasha es für ihn – hohe Dosen Morphium.«
Eine Stille breitete sich aus, die Ernesto in den Ohren wehtat.
»Er… er tat – was?«, fragte er schließlich und wünschte sich in diesem Moment nichts so sehr wie ein neues Leben. Er tastete nach Liberty Bells Hand.
»Er machte sie – süchtig.« Chazza Blume nickte, seufzte tief und lehnte sich in seinem Klinikkorbsessel zurück. »Als ich aus Europa zurückkam, erkannte ich sie kaum wieder. Sie war abgemagert und ablehnend und kühl.«
»Warum hat sie – dir nichts gesagt, sich dir nicht anvertraut?«
Ernesto hatte das Gefühl, mit einer völlig fremden Stimme zu sprechen. Nichts war mehr, wie es mal gewesen war.
»Ich glaube, sie verstand selbst lange nicht, was geschehen war. Sie fand keinen Zugang zu dir. Sie stand vor deinem Bettchen und starrte dich an, als seiest du ein völlig fremdes Baby. Sie war… wie gebrochen. Versteht ihr, sie stand verloren in diesem kalten Haus – und das Einzige, was zählte, war, dass sie regelmäßig ihre Spritzen bekam. Erst viel später hat sie überhaupt verstanden, dass es nicht helfende Medikamente waren, die Stanley und Natasha ihr da abwechselnd verabreichten, sondern Morphin und Heroin und andere Gifte. – Und immer wohldosiert. Mit Bedacht. Dr. Merrill legte viel Wert darauf, dass seine – Frau äußerlich wohlerhalten blieb. Teure Friseure, Visagisten, Maniküre, Pediküre… Es mangelte Sondra in – dieser Hinsicht wenigstens an nichts…«
Chazzas Stimme verebbte. Lange war es still in der Winterveranda, in der sie zusammensaßen, und Ernesto überlegte, ob er sich besser fühlen würde, wenn er nie von diesen Dingen erfahren hätte.
»Und die Katzen?«, fragte er schließlich, aber er kannte die Antwort selbst. Die Katzen waren Stanley Merrills großzügige Ersatzgabe an seine Mutter, die ihr Baby »verloren« hatte. Mit den Katzen hatte er sie zusätzlich ruhiggestellt.
»Aber immer, wenn sie versuchte, sich doch noch zu wehren, zu befreien, auf ihre schwerfällige, kranke Art, dann…«, sagte er und sah, während er sprach, von Chazza zu Liberty Bell und dann hinaus in den nassen Herbsttag.
Chazza nickte. »Ja, dann tötete er eins der Tiere.« Ernesto schaute immer noch hinaus zu den nassen Bäumen.
»Warum du? – Warum solltest auch noch du – sterben?«
Chazzas blinde Augen zucken. »Nun, sie ist doch noch zu mir gekommen. Diesen Sommer. Sie war so verwirrt, wie ich sie noch nie erlebt hatte, und sie hatte wahnsinnige Angst vor dem Entzug. Aber sie hat es mir endlich erzählt. Sie hat mir – endlich – alles erzählt.«
»Und du hast versucht, mit ihm zu reden, nicht wahr?«, sagte Ernesto und spürte, dies war seine letzte Frage. Er verstand jetzt alles.
»Ja«, sagte Chazza leise.
»Bitte, sprich nicht weiter. Ich kann es nicht ertragen, Chazza.« Ernesto versuchte, sich vorzustellen, wie sein Vater – im Kopf war er das noch immer – Natasha gezwungen hatte, Chazza für immer zum Schweigen zu bringen. So wie Flavio. Und Jaden.
Stille breitete sich aus.
»Chazza, wir gehen jetzt«, sagte Ernesto schließlich leise. »Aber wir werden wiederkommen. Danke für alles, was du für meine Mom getan hast. Und für mich. Werde wieder ganz gesund. Deine Musik… sie ist für mich die
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