Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
wusste eben nicht, wann sie – demütig zu sein hatte. Die kleine Ruby Kyriacou dagegen – in ihr pulsierte Leben, Liebe, Licht. Und dabei war sie klein, schwach, mir ergeben… Das machte sie zu meinem Kraftquell. Ich – tauchte in sie ein wie ein König…«
Plötzlich durchbrach ein Schrei den Redefluss seines Vaters. Ein Schrei, wie Ernesto ihn noch nie gehört hatte, jenseits jeder Menschlichkeit, ein Schrei, den er nie wieder würde vergessen können.
Und dann sah er aus den Augenwinkeln eine jähe Bewegung, fast wie ein Blitz, und im nächsten Moment war Liberty Bell über seinem Vater, wie ein Raubtier, das seine Beute anfällt. Ihr Gesicht war voller Verzweiflung und Entsetzen, aber aus ihren Augen sprühte ein Hass, der Ernesto fast von den Füßen riss.
Erneut kippte der Wagen polternd zu Boden und dann ging alles sehr schnell. Auf einmal hatte Dr. Merrill eines seiner wertvollen Platinskalpelle in der Hand. Er musste es die ganze Zeit in der Innentasche seiner Weste bei sich getragen haben und er hielt es, wie er seine Skalpelle während seiner Operationen immer hielt: in der Art, wie man chinesische Essstäbchen hält. Behutsam, aus dem Handgelenk heraus und locker zwischen den Fingern liegend. In der New York Times war er sogar einmal in dieser Pose abgebildet gewesen, als die Zeitung von einer großen Auszeichnung berichtete, die Dr. Merrill damals empfangen hatte.
Ernesto sah es und warf sich mit einem Aufschrei über Liberty Bell und fast im gleichen Moment spürte er den Luftzug auf seiner freigelegten Wange und das warme, herausströmende Blut.
Und immer noch schrie Liberty Bell, sie schrie und schrie und warf sich über den am Boden kauernden Arzt und schlug auf ihn ein.
Ernesto presste seinen Arm gegen sein Gesicht, das sich taub anfühlte. Sein Vater hatte ihm die Wange aufgetrennt. Ernesto spürte seinen Kieferknochen an seinem Hemdärmel wie ein taubes, wattiges Scheuern. Die Luft um ihn herum roch nach Blut, Ernesto wurde es schwindelig.
»Liberty Bell… Oh Liberty Bell«, sagte er leise und beschwichtigend, aber er konnte sich kaum noch verständlich machen. Seine Stimme klang verschwommen und sein Mund gehorchte ihm nicht mehr. Er war nicht besser als seine Mutter. Verdammt, warum war es ihm nur nicht gelungen, Liberty Bell zu beschützen?
Aber brauchte sie das, Schutz?
Sie schrie noch immer, er hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so schreien konnte.
Er versuchte, seinen Kopf zu heben, er musste wissen, was da vor sich ging, sein Vater, irgendwo am Boden, Liberty Bell über ihm, da war das Skalpell, Finger hielten es, lange Finger, aber keine Chirurgenfinger… Finger, die gearbeitet hatten… starke, feste sommerbraune Finger…
Und dann plötzlich verstummten sie, die rasenden Schreie.
»Nein …«, flüsterte Dr. Merrill in die plötzliche Stille hinein, in der Liberty Bells Stimme noch nachhallte. »Tu das nicht, mein schönes Kind. Ich werde dich von hier fortbringen. Weit fort… In ein fernes Land, in die Natur. Wir werden wieder unseren eigenen Wald haben. Ich verspreche es dir.«
Stille. Blitzendes Metall am Hals seines Vaters.
»Liberty… Bell.«
Tonlos. Ernesto verstand die Bedeutung des Wortes jetzt erst. Tonlos hieß: kein einziges Geräusch. Und dazu Dunkelheit, schwärzer und immer schwärzer werdende Dunkelheit. Die Stille schmerzte in seinem Kopf, brannte wie ein Feuer. Voller Panik versuchte er, wach zu bleiben. Er durfte Liberty Bell jetzt nicht alleine lassen! Allein mit seinem – wahnsinnigen Vater! Mit ihrem wahnsinnigen Vater… Er krallte sich am Boden fest wie ein Ertrinkender, aber er fand keinen Halt mehr. Und irgendwann hatte er das Gefühl davonzuschweben, trotz Liberty Bell, die nun weinte. Er konnte nicht mehr bleiben. Aufseufzend und unendlich traurig und auf einer Welle aus Schmerz wehte er fort.
Epilog
S o makellos schön wie früher wirst du jedenfalls nicht mehr, so viel steht fest«, sagte Dara, warf sich auf einen der Besucherstühle in Ernestos Krankenzimmer und betrachtete prüfend die genähte Schnittwunde im Gesicht seines Freundes. »Du wirst es nehmen müssen wie Bill Weasley in Harry Potter, den ein Werwolf angegriffen hat. Nur dass es in deinem Fall statt eines Werwolfs dein Vater war, was allerdings mindestens genauso gruselig ist…«
»He Dara, hör auf«, sagte Portia. »Das ist nicht witzig. Ern ist noch schwach, denk an das, was die Krankenschwester uns draußen gesagt hat. Er soll sich so wenig aufregen wie
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