Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Bäume, Wälder, Höhlen, Schlupfwinkel …«, erklärte Dr. Merrill an sie gewandt fast reumütig. »Und dennoch… Seht, so schnell und mildtätig ist der Tod, wenn man es richtig anstellt.«
Er rollte zu seiner Frau hinüber und legte ihr den Katzenkadaver nachlässig auf die Beine. Mrs Merrill öffnete mühsam die verquollenen Augen, gab aber keinen Ton von sich.
»Es reicht! Verdammt, es reicht! Es reicht! Es reicht!«, schrie Ernesto außer sich, sprang auf, nahm die schlaffe, warme Katze mit dem grotesk verdrehten Kopf und legte sie außer Sichtweite seiner Mutter, die die Augen aber schon wieder geschlossen hatte, in ein offenes Regal auf ein paar medizinische Fachzeitungen. Verdammt, wie oft hatte er das schon getan? Lauter Katzen, die keineswegs an Überzüchtung gestorben waren, wie alle immer angenommen hatten – sondern lauter Opfer seines wahnsinnigen Vaters. Wie hatte er es sonst getan? Hatte er sie totgespritzt wie…? Abermals musste Ernesto an Jaden denken und jähe Übelkeit wallte in seinem Inneren auf. Er würgte und spuckte einen Schwall Mageninhalt auf den hellen Dielenboden. Es roch schrecklich und Ernesto spürte einen gallebitteren Geschmack in Hals und Mund. Für einen Moment benommen, wischte er sich den Mund mit dem Hemdärmel ab.
»Dieses hysterische Überreagieren hast du auch von ihr«, sagte Dr. Merrill missbilligend. »Von ihm sicher nicht. Dazu ist er zu zurückgeblieben.«
Ernesto hob den Kopf. »Von ihm?«
»Mein Gott, was hast du denn gedacht«, flüsterte Dr. Merrill mit heiserer Stimme. »Dass du mein Sohn bist? Ein Wunder, dass du überhaupt über Augenlicht verfügst, Ern!«
Die Worte sickerten ein, wie all die Worte zuvor, aber sie waren es, die zu viel waren, die Ernesto von den Füßen rissen und ihn wanken ließen.
Dr. Merrill lächelte sanft Liberty Bell zu, die begonnen hatte, sich fast unmerklich hin und her zu wiegen, vor und zurück, als sei sie gar nicht mehr anwesend.
Im gleichen Moment ging in Ernestos Mutter eine Veränderung vor sich. Zu der zunehmenden Starre in ihrem Gesicht kam ein eigenartiges Zittern und Zucken, das immer wieder durch ihren verkrampften Körper ging.
Und da traf Ernesto seine Entscheidung. Er versetzte dem Rollstuhl seines Vaters einen heftigen Stoß, sodass er umkippte. Dr. Merrill stürzte, ohne Widerstand zu leisten, ohne auch nur mit den Armen zu rudern, zu Boden. Er begann, leise zu lachen.
Ernesto warf sich über ihn und presste ihn fest auf den harten Boden. »Ich werde nicht zulassen, dass du sie sterben lässt. Wo ist dieses… dieses Gegengift?«, keuchte er und riss seinen Vater an den Schultern. »Sag es mir, du… perverses Dreckschwein!«
Dr. Merrills Augen verengten sich, keine Jesusaugen… wohl eher Osama-bin-Laden-Augen. Die Augen eines Wahnsinnigen, während er schwer in Ernestos Gesicht atmete: »Wie ist dein Gefühl, Ern? Denk nach. Denk scharf nach und sei ehrlich zu dir: Ich war dir ein guter Vater. Hab dir alles gegeben. Hab dich in meinem Haus groß werden lassen, obwohl du nicht mein Sohn bist. Aber deine Mutter? Was ist mit ihr? Hat sie dich je wirklich geliebt? Hat sie sich dir gegenüber wie eine Mutter, wie eine gute Mutter benommen?«
Ernesto spürte, wie eine verzweifelte Schwäche ihn übermannte. Er wollte etwas erwidern, wollte schreien, wollte sich wehren, aber kein Wort drang über seine Lippen.
Dr. Merrill übernahm die Antwort für ihn. »Nein, denn sie ist nichts als ein kaltes, berechnendes Luder, Ern, die sich niemals – hörst du –, niemals um dich gekümmert hat.« Er schob seinen Sohn mit seinen kräftigen, trainierten Armen so weit von sich, dass er freikam. Ohne sich zu schämen, robbte er zu seinem Rollstuhl, der umgekippt im Raum lag, brachte ihn mit einem Griff wieder in die richtige Position, zog sich mühelos hoch und rutschte ebenso mühelos zurück in seinen Sitz. Beinahe liebevoll rückte er seine gelähmten Beine zurecht und klickte die Haltehebel vor seinen Füßen wieder fest. Seiner Frau warf er einen kalten, angewiderten Blick zu. »Ein Kind zu versorgen – dazu war sie gar nicht in der Lage. Für sie waren bald ganz andere Dinge wichtig.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Du solltest sie mal sehen, wie sie nach ihren Drogen winselt, wenn sie in etwas besserer Allgemeinverfassung als heute ist. Bitte, Stan. Bitte. Ich halte es nicht mehr aus… Die Spritze. Gib mir meine Spritze.« Wieder lachte er leise. »Nun, sie hatte sich all das selbst zuzuschreiben. Sie
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