Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
fünfundzwanzig und die Schüler nahmen mich nicht besonders ernst. Sie – trieben ihre Späße mit mir, ließen mich vor verschlossenen Türen stehen, tauschten, um mich zu verwirren, ihre Namen untereinander, schlichen sich verstohlen aus meinen Stunden fort… Einmal schlossen sie mich im Waschraum ein und es dauerte Stunden, bis mich am späten Nachmittag der Hausmeister fand und befreite.«
Chazza summte. »Deine Mutter war anders, Ernesto. Sie verstand nicht viel von Musik, sie hatte kein sehr – schönes Zuhause. Ihren leiblichen Vater kannte sie nicht, ihr Stiefvater war nicht nett zu ihr. Es kam vor, dass er sie schlug oder in ihrem Zimmer einschloss. – So lernten wir uns kennen. Sie half mir im Schulalltag und ich führte sie dafür in die Welt der Musik.«
Wieder hielt Chazza einen Moment inne. Ernesto hing an seinen Lippen.
Warum wurde sie, wie sie wurde? Warum beachtete sie mich kaum? Warum ließ sie zu, was ER tat?, wollte er brüllen, aber er rührte sich nicht und kein Ton kam über seine Lippen.
Liberty Bell schob beruhigend ihre Hand in seine.
»Schön, dass ihr zwei euch habt«, sagte Chazza dazu und lächelte leicht, ganz so, als hätte er diese Geste gesehen. Vielleicht hatte er sie gehört. Oder gespürt. Ernesto hatte das Gefühl, bei Chazza sei eine Menge möglich.
Mit leiser Stimme sprach Chazza schließlich weiter. In der Hand hielt er eine kleine Zimbel, auf der er hin und wieder ein paar leise Töne spielte. »Unsere Freundschaft hielt. Und vertiefte sich. Irgendwann kam es, wie es kommen musste. Ich verliebte mich in Sondra. Ich mochte ihre staksige Art. Ihr Lachen. Sogar die Wut, in die sie manchmal geriet…«
Klimper, klimper, klimper…
»Sie mochte mich auch«, sagte Chazza dann und nickte vor sich hin. »Aber sie wehrte sich dagegen. Denn sie hatte sich geschworen, niemals mehr arm und abhängig zu sein. Sie wollte sorglos sein, unbekümmert…«
Wieder machte Chazza eine Pause.
»Wir kommen dem Mist allmählich näher, was?«, sagte Ernesto in dieses Schweigen hinein und eine Spur Bitterkeit schwang in seiner Stimme.
Chazza lächelte verhalten.
Ernesto musste plötzlich daran denken, dass sie alle drei in der letzten Zeit dem Tod von der Schippe gesprungen waren. Ein unheimlicher Gedanke. Rasch schob er ihn zur Seite und sagte stattdessen beinahe grob: »Okay, lass mich raten: Sie lernte… Stanley Merrill kennen und zog ihn dir vor. So war es doch, oder?«
»Ja, so war es«, sagte Chazza schlicht.
»Und dann?«, drängte Ernesto.
»Zuerst ging alles gut«, fuhr Chazza fort. »Sondra hatte nun alles, was sie wollte. Ein Haus, einen Ehemann, ein schickes Auto, Geld… – Aber dann…«
Chazzas Gesichtszüge wirkten plötzlich angespannt. »Dann veränderte sich etwas. Deine Mutter, Ern, veränderte sich. Sie wurde stiller, ernster, nachdenklicher.«
»Wieso?«
Chazza machte eine hilflose Geste mit einer Hand, während er mit der anderen immer noch die Zimbel hielt.
»Ich fragte sie ein paarmal, aber sie wich mir aus. Ein einziges Mal sagte sie, Stanley habe manchmal eine Art, die ihr unheimlich sei. Er mache ihr in diesen Momenten beinahe Angst…«
Ernesto rührte sich nicht. »Baz sagt, Ruby Kyriacous Tagebuch zufolge, hat die Sache bald nach der Hochzeit – meiner Eltern, ich meine nach der Hochzeit von Sondra und Stanley, angefangen.«
Chazza nickte. »Wahrscheinlich war das so«, sagte er leise. »Einmal vertraute Sondra mir nämlich an, dass Stan sich von ihr fernhielte… Ihr wisst, was ich meine?«
»Sex«, murmelte Ernesto, ohne Liberty Bell anzusehen.
Chazza nickte. »Ja, er berührte sie kaum noch. Er war viel unterwegs, und wenn er da war, war er abweisend oder schloss sich ein.«
Ernesto spürte Liberty Bells Traurigkeit. Verdammt, für sie musste es noch viel schwerer sein als für ihn, sich die Geschichten von damals anzuhören.
»Sondra litt sehr und bat mich oft zu kommen«, fuhr Chazza fort. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »So bist du entstanden«, sagte er und etwas wie verhaltene Freude schwang für einen Moment in seiner Stimme, während Liberty Bell Ernestos Hand fester drückte.
»Ob Stanley es wusste oder nicht, Sondra und ich sprachen nicht darüber«, sagte Chazza. »Sie… sie machte jedenfalls keine Anstalten, diese Ehe zu beenden.«
»Wegen… seiner Kohle«, murmelte Ernesto.
Chazza seufzte dazu. »Aber die Schwangerschaft – machte sie glücklich, Ernesto. Sie freute sich auf dich. Sehr sogar.« Er hielt einen
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