Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
als Ernesto entlassen wurde. »Warum hat die gute alte Natasha das getan? Ich meine, das mit… Flavio. Und Chazza.«
Sie schwiegen und Ernesto wünschte sich, woanders zu sein, an einem Ort, an dem es keine Fragen mehr gab.
Die Polizei hatte ihm Auszüge aus Notizbüchern gezeigt, die in Dr. Merrills Tresor gefunden worden waren, offenbar war man der Ansicht, Ernesto könne dazu beitragen, den Sachverhalt um den Mordversuch an Chazza und den Mord an Flavio aufzuklären.
Aber er hatte es nicht gesehen!
Er hatte die ganzen Jahre mit ihnen in einem Haus gelebt und nichts gesehen! Nicht den Wahnsinn, der in Dr. Merrill tobte, noch das Leid seiner Mutter oder Natashas. Und das war es, was er sich ununterbrochen vorwarf.
Ich hatte Natasha genau gesagt, wie sie es machen sollte, hatte Stanley Merrill in seiner akribischen Schrift in eins der Notizbücher notiert. Ernesto hatte Mühe gehabt, sich überhaupt vorzustellen, dass sein Vater diese Details notiert hatte. Andererseits – was von dem, was Stanley Merrill getan hatte, würde je zu erklären sein?
Der alte Mr Fabiani hätte nicht zu leiden brauchen, hieß es da an einer Stelle. Keine Sekunde. Er schlief. Ein Schnitt und er wäre einfach so hinübergeglitten in die dunkle Welt. Aber Nat machte Fehler. Sie zögerte. Sie zauderte. Sie mochte ihn zu gerne. Gefühlsduselei. Deshalb wachte er auf. Was er wohl dachte, als er Natasha mit dem Skalpell über sich sah? Jedenfalls kämpfte er. Er war ein alter Mann. Aber Natasha wusste, sie durfte nicht unverrichteter Dinge wiederkommen.
Und an anderer Stelle hatte Dr. Merrill eine ähnliche Passage verfasst. Bei Chazza machte die dumme Person wieder Fehler. Dabei hatte ich sie genau instruiert. Du lieber Himmel – sogar mein Sonnenmädchen war in der Lage, einen Menschen über die Kante des Santa-Clara-Steinbruchs zu stoßen. Warum nicht Natasha? Als sie es schließlich über sich brachte, stieß sie an der falschen Stelle zu. Dort, wo der Krüppel schließlich in die Knie ging und fiel, hat der Steinbruch kaum noch Fallhöhe.«
»Verdammt«, stöhnte Dara und holte Ernesto damit in die Gegenwart zurück. »Es gab doch keinen Grund! Warum – machte – Nat – bei – diesem – ganzen – Irrsinn – mit? Was hatte Dr. Merrill gegen sie in der Hand? Kein Mensch wird schließlich freiwillig zum – Killer…«
Ernesto biss sich auf die Lippen und schwieg weiter. Seit dieser schrecklichen Nacht in der Gewalt seines Vaters hatte er fast ständig Kopfschmerzen. Immerzu versuchte er, zu verstehen, zu begreifen.
Nat… Ausgerechnet Nat, die sanft und fürsorglich und gut war. Warum sie? Warum? Warum? Warum? An ihrer Hand hatte er laufen gelernt. Und alles andere, was ihn ausmachte…
»Und das mit Jaden muss sie doch auch gewusst haben, oder?«, beharrte Dara mit gerunzelter Stirn.
»Das begreift bisher noch keiner«, sagte Baz vorsichtig und nahm Ernesto seine Tasche ab, um sie hinten im Wagen zu verstauen. »Die Polizei konnte bis jetzt nur sicher ermitteln, dass Jaden wohl versucht hat, Dr. Merrill mit seinen Erkenntnissen zu konfrontieren.«
»Können wir dann jetzt?« Salvador warf Dara einen finsteren Blick zu. Sie befanden sich in einem nicht öffentlich zugänglichen Teil der Tiefgarage unter dem Krankenhaus, um, wenn es denn überhaupt möglich war, der Presse zu entgehen.
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen«, murmelte Dara, seine Stimme klang düster.
Salva vertrieb unterdessen Dalí von der Rückbank, um Platz für Ernesto zu schaffen. »Liberty Bell, du kannst vorne bei Baz sitzen.« Er kletterte nach hinten in den kleinen Wagen und winkte Ernesto, sich neben ihn zu setzen. Dara war mit dem Fahrrad gekommen. Mit brütender Miene kurvte er dicht hinter dem startenden Auto her.
Sie gelangten unbehelligt von den Reportern nach draußen. Ernesto schaute stumm aus dem Fenster, während sie den Highway entlangfuhren. Sein eigener Wagen stand noch immer vor der Villa seiner Eltern auf dem West End Hill. Dorthin würde er nicht zurückkehren, nicht er und auch nicht seine Mutter, so viel war bereits geklärt. In dem Haus war er nie glücklich gewesen – und der letzte Tag und die letzte Nacht darin… Ernesto schloss die Augen. Nein, das Rampenhaus würde verkauft werden und sicherlich eine geradezu irrsinnige Menge Bargeld abwerfen. Geld für Sondra, aber auch ihn und Liberty Bell, hatte Baz erklärt. Welch Tücke des Schicksals: Liberty Bell würde erben, weil nachgewiesen werden würde, dass Dr.
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