Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
kümmern, Ern«, sagte Baz und legte seinen Arm um Ernestos Schulter. »Und es ist ja nicht aller Tage Abend. Du wirst sie schon wiedersehen.«
Ernesto suchte den Blick des alten Flavio, der gegen einen Baum lehnte. Aber der alte Mann, der sonst immer einen Rat in petto hatte, stand nur da und starrte wie selbstvergessen vor sich hin.
Niemand konnte ahnen, dass Flavio Fabiani, Jahrgang 1940, eine Woche später tot und von Fliegen umschwirrt in seinem kleinen, schmuddeligen Haus liegen würde.
Es war ein vertrautes Szenario: Natasha putzte und räumte auf, seine Mutter lief ruhelos durch das Rampenhaus, sein Vater lauschte den Präludien von Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow auf seiner wahnsinnig teuren Schweizer Musikanlage und schaute dabei aus dem großen Panoramafenster des Salons in die Ferne. Da die Villa an einem Hang lag, erlaubten die riesigen Fensterscheiben einen unglaublichen Ausblick in die Ferne.
»Das wäre nicht nötig gewesen, Ern«, sagte er, ohne sich umzudrehen, als Ernesto den Raum betrat.
Ernesto ließ sich in das dunkle Sofa fallen, ungeduscht, ungewaschen, in seinen Klamotten, in denen er die letzte Nacht verbracht hatte. Er fühlte sich ausgelaugt und verzichtete auf die Frage, woher sein Vater bereits von der Sache wusste. Das war typisch, Dr. Merrill war stets über alles informiert, wie auch immer.
»Was wäre nicht nötig gewesen?«, fragte er dennoch.
»Dass du dich in die Sache mit – diesem Waldmädchen reinhängst.«
»Ich habe mich nirgends reingehängt. Wir haben das Mädchen zufällig entdeckt. Es musste ihr jemand zur Seite stehen, nachdem das Arschloch Cal Wyludda bei ihr aufgetaucht ist, um keine Ahnung was mit ihr anzustellen.«
»Sprich nicht in dieser Fäkaliensprache, bitte, Ern.«
Ern, nicht Ernesto. Sein Vater nannte ihn fast nie bei seinem richtigen Namen.
»Ich wollte nur nach ihr sehen. Das war alles.«
Jetzt drehte Dr. Merrill sich doch um und musterte seinen Sohn. »Dein Name ist bereits online, morgen steht er in allen Zeitungen.«
»Das ist mir egal, Dad.«
Natasha durchquerte den riesigen Raum. »Kann ich… kann ich etwas für Sie tun, Dr. Merrill?«, fragte sie.
Ernesto hatte oft den Eindruck, dass Natasha Zlotsky seinem Vater näher stand als seine Mutter. Wäre sie hübscher, jünger, dünner gewesen, hätte Ernesto darüber nachgedacht, ob sein Vater wohl ein Verhältnis mit ihr hatte, aber das stand nicht zur Debatte. Davon abgesehen war sich Ernesto nicht sicher, ob sein Vater, der von seinem dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt war, überhaupt noch – nun – Sex haben konnte.
»Ja, lassen Sie meinem Sohn ein Bad ein. Er – stinkt wie ein Iltis«, antwortete Dr. Merrill und lächelte schon wieder. Er war nie lange verstimmt, das war nicht seine Art.
Ernesto schaute kurz auf das Zwillingsbild der beiden kleinen Mädchen aus Xi’an an der gegenüberliegenden Wand. Wahnsinn, wie ansehnlich sie nach den Operationen seines Vaters geworden waren. In seinem Privatbüro hier in der Villa gab es eine Aufnahme der beiden vor dem Gratisoperations-marathon Dr. Merrills. Darauf sah man zwei verformte Schädel, aneinandergewachsen, Geschwülste an der gemeinsamen Nase, eine geschwollene, verzerrte, geteilte Oberlippe, darunter eine hässliche Öffnung, die kaum an einen Mund erinnerte, und nicht einmal den Ansatz einer Unterlippe.
»Sorry, wenn ihr euch – Sorgen gemacht habt«, sagte Ernesto und stand auf.
Dr. Merrill nickte.
»Weißt du, wo man sie hingebracht hat?« Ernesto stellte die Frage nicht gern, aber es ging nicht anders.
»Dr. Walther von der Neurologie im General Hospital wird sich um das Mädchen kümmern«, sagte Dr. Merrill. »Warum fragst du?«
Ernesto schwieg.
»Das Mädchen ist bei ihm in guten Händen, Ern. Es ist nicht nötig, dass du weiterhin den barmherzigen Samariter spielst.«
Ernesto schwieg weiter und wandte sich zur Tür. Während er den langen Weg aus dem Zimmer hinter sich brachte, war sein Vater schon wieder bei anderen Themen. Er überflog ein paar eigene Unterlagen und erkundigte sich dabei zerstreut, ob der Brief vom College inzwischen endlich angekommen sei. Auch nach den letzten anstehenden Klausuren fragte er, aber Dr. Merrills Worte erreichten Ernesto nicht wirklich. In drei Wochen war Schluss mit der Schule, danach Sommer, College, Studium – das war etwas, das er schon an normalen Tagen verdrängte. Und heute, heute war ihm die Zukunft, zumindest die ferne, einfach nur egal.
»Jetzt flipp nicht
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