Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
jetzt versuchte, möglichst viel Rattenpisse mit dem Kleenexknäuel aus dem Deckenbezug zu rubbeln.
Dazu hatte sie sich leicht aufgerichtet. Zum ersten Mal! Zum ersten Mal! Zum ersten Mal!
Dr. Bolino flüsterte mit Dr. Walther und machte verstohlene Notizen in ihre Unterlagen.
Ernesto und Dr. Walther musterten sich einen Moment feindselig.
»Das… Tier kann aber unter keinen Umständen hierbleiben, dass das klar ist«, sagte der Arzt schließlich knapp und machte Anstalten, den weißen Raum zu verlassen. Im Hinausgehen bückte er sich, hob den Stein auf, legte ihn auf Liberty Bells Nachttisch, dann erst ging er davon.
»Keine Untersuchung heute?«, fragte Ernesto hoffnungsvoll.
Bethany Bolino lächelte in Liberty Bells Richtung. »Vorerst nicht, wenigstens«, sagte sie, was besser als nichts war.
»Sag, hast du wirklich dein ganzes Leben dort draußen zugebracht?«, fragte Ernesto leise, als er und Liberty Bell tatsächlich für einen Moment alleine waren. Dr. Bolino hatte ihnen diesen Freiraum erkämpft und, ehe sie die beiden verließ, selbst eine Vase mit Wasser für die ramponierte lila Blume gebracht. Liberty Bells Blick hing eine ganze Weile daran. Ernesto betrachtete sie besorgt: Versank sie etwa schon wieder in Schweigen? Hastig wiederholte er seine Frage.
»Ich… ich glaube schon«, antwortete Liberty Bell schließlich flüsternd. Ihre Stimme klang rau und gepresst. »Ich… ich kann mich… jedenfalls… an nichts anderes erinnern. Da waren immer nur… meine Mom und ich.«
Annie Lyford…
»Und dein – Dad?«, fragte Ernesto vorsichtig.
»Ein – Dad? Ich hatte Dad nicht.« Das war sehr schnell gekommen.
Liberty Bells Augen hefteten sich an das große Klinikfenster. Draußen schien die Sonne, aber die Aussicht war trotzdem nicht die beste. Im Reisekatalog hätte stehen müssen: kein Meerblick.
In der Ferne lag der graue Highway, dazu die große Ausfahrt, der Klinikparkplatz, ein kleines Kinderspielareal auf einer winzigen Wiese neben dem Parkplatz. Der Spielplatz war von McDonald’s gesponsert und aus diesem Grund sehr mcdonald’slastig ausgestattet: von hier oben sah man eine Ronald-McDonald-Rutsche, eine Ronald-McDonald-Schaukelanlage und eine ebensolche Kletteranlage.
Warum hatten sie Liberty Bell ausgerechnet in diesem Zimmer untergebracht? Die Fenster, die zur entgegengesetzten Richtung gingen, zeigten Wald, Wiese, Weite. Meerblick, sozusagen. Dazwischen ab und zu ein paar Häuser und Straßen, okay, aber immerhin. Wäre es nicht sensibler gewesen, Liberty Bell, dem Mädchen aus dem Wald, wie die Zeitungen sie nannten, einen Raum mit wenigstens diesem Ausblick zuzuteilen?
»Liberty Bell?«, sagte Ernesto, als er sah, wie ihr Blick wieder verschwamm und sie sich abwandte. »Liberty Bell?«
»Ich… ich kann nicht …«, flüsterte das Mädchen.
»Was – was kannst du nicht?«
»Wach bleiben…« Ihre Stimme war schwach und voller Angst. Vor allen Dingen voller Angst.
Ernesto hob die Hand und in seinen Gedanken berührte er ganz leicht ihr Gesicht. Oder wenigstens ihren Arm. Aber er tat es nicht, weil er sie nicht erschrecken wollte.
»Hey, das ist normal, Liberty Bell«, sagte er stattdessen nur beruhigend. »Das sind die Medikamente, die sie dir geben. Sie machen dich müde. – Bald wirst du wieder völlig okay sein. Versprochen!«
Verdammt, konnte er das versprechen? Vor gefühlter Hilflosigkeit ballte er für einen Moment die Hände zu Fäusten.
»Meine Mom… sie sagte«, flüsterte Liberty Bell plötzlich, ohne ihn anzusehen. Es war, als spräche sie mit geschlossenen Augen zur Zimmerwand. »…sie sagte oft, dass Männer – Müll sind. Nur Müll. ›Männer sind Müll, Liberty Bell‹, sagte sie. Aber du bist auch ein – Mann, oder?«
Ehe Ernesto diese Frage beantworten konnte, fuhr Liberty Bell fort: »Wenn… du… auch… ein Mann… bist… dann – dann hat meine Mom sich geirrt. Denn du… du bist nicht schlecht, glaube ich…«
Ernesto lächelte eine Spur verlegen, während sich plötzlich wieder Stille ausbreitete. Er hatte ihr Vertrauen eigentlich nicht wirklich verdient. Hätten er und seine Kumpel sie doch bloß in Ruhe gelassen, nachdem sie Ronans Videoaufnahme gesehen hatten.
»Du… du musst nicht ewig hierbleiben, Liberty Bell«, sagte Ernesto schließlich, um etwas Tröstliches von sich zu geben. Er betrachtete sie. Man hatte ihr alles genommen: ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung, ihren Wald, ihr Zuhause. Verdammt, wie sollte sie klarkommen?
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