Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
einem Marshmallow. Sie sprachen miteinander, indem sie sich hauptsächlich ansahen. Ab und zu sagte Bartosz ein paar polnische Sätze, mit leiser, atemloser, tröstender Stimme, aber Natasha antwortete kaum. Meistens weinte sie nur, während sie ihren Sohn mit aufgerissenen Augen anstarrte. Hinterher ging es ihr allerdings meistens deutlich besser. Natashas Sohn war nur ein Jahr älter als er selbst, jedenfalls sagte sie das, aber er sah viel älter aus. Darayavahushs Kommentar zu einem Foto von ihm war mal gewesen: »Dieser, sagen wir mal, Herr in mittleren Jahren soll der Sohn von Sweetie-Nat sein? Niemals! Sie bindet euch einen Bären auf! Der Kerl ist ihr Briefträger oder so…«
»Bis später dann, Nat, okay?«, sagte Ernesto leise und machte sich auf den Weg ins Ed’s Corner zu den anderen. Einen Moment lang hatte er überlegt, ob er nicht noch einmal zurück ins Krankenhaus fahren sollte, um zu versuchen, Chazza zu sehen, aber Dr. Bolino hatte ihm wenig Mut gemacht, dass man ihn auf die Intensivstation lassen würde. Langsam kam es ihm so vor, als wäre die Klinik mehr eine Festung als ein Krankenhaus.
In seinem Kopf herrschte Chaos. Die Dinge liefen irgendwie aus dem Ruder. Nichts war so, wie es sein sollte. Okay, er machte sich schon länger Sorgen: Seine Mutter entglitt ihm, nachdem er ihr entglitten war, wann auch immer, sein Vater zog sich mehr und mehr zurück, anders konnte Ernesto sich seine Arbeitswut auf der einen und seine einsamen Doktor-Schiwago-Orgien und sein Aus-dem-Fenster-in-die-Ferne-Starren, eingehüllt in klassische Musik, auf der anderen Seite nicht erklären. Natashas merkwürdige düstere Stimmungen häuften sich ebenfalls.
Aber in den letzten Tagen hatte das Chaos Oberhand genommen. Flavio krass ermordet – und jetzt stand auch noch Chazzas Leben auf der Kippe. Verdammt, was würde als Nächstes kommen? Das einzig Positive in seinem Leben war, wenn man so wollte, Liberty Bell.
Es hatte angefangen zu regnen, auf der Georgia Avenue standen Pfützen und große, schwere Wolken hingen wie schmuddelige Wäsche tief über den Dächern.
»Hi Hush, Salva, Mose«, sagte er erschöpft, als er das Ed’s betreten hatte. Er setzte sich zu seinen Freunden und spürte deutlich, wie sehr er es vermisste, dem alten Flavio einen Gruß zuzuwinken.
»Hast du es schon gehört?«, fragte Mose in seine trüben Gedanken hinein.
»Das mit Chazza? Üble Sache, ja …«, antwortete Ernesto und bestellte bei Ed ein Ginger Ale.
Ginger Ale hatte er als Kind oft mit Chazza getrunken. Chazza war ein großer Fan von allem, was Ingwer enthielt. Ingwer-Bonbons, -Tee, -Schokostäbchen, die ganze Palette.
»Eine Pfütze, Chazza«, hatte Ernesto einmal begeistert gerufen, als er noch ziemlich klein gewesen war. Sie waren zusammen im Wald unterwegs gewesen.
»Tief?«, erkundigte sich Chazza.
»Mittel«, schätzte Ernesto und sprang mitten hinein. Bei Chazza durfte er in Pfützen planschen, anders als bei seinem Vater, der es ihm verboten hatte, nachdem er ihn einmal bespritzt hatte.
Hinterher, als beide sehr nass waren, hatten sie zusammen heißen Ingwertee getrunken, in der kleinen Wohnung am Aberdeen Plaza, die Chazza damals gemietet hatte, und Chazza Blume hatte Singin’ in the rain für ihn gesummt.
Mose sah ihn verwundert an. »Was soll mit Chazza sein?«, fragte er. »Ich meinte eigentlich die Sache mit den Kyriacous draußen in Wood Green…«
Ernesto berichtete rasch von dem Unfall am Santa-Clara-Steinbruch und davon, dass Chazza in diesem Moment schwer verletzt im General Hospital lag.
»So ein Mist«, sagte Darayavahush hinterher kopfschüttelnd. »Der Ewig Summende hat aber auch immer ein Pech. Blind, eheweiblos – und jetzt auch noch einen gespaltenen Schädel …«
»Und sie haben ihn im Santa-Clara-Steinbruch gefunden?«, fragte Salva in diesem Moment nach und hob den Kopf. »Ist dein Dad nicht damals auch dort abgestürzt, Ern?«
Ernesto nickte.
»Wird Zeit, dass da mal ein Zaun hinkommt«, sagte Mose. »Wie viele Leute soll es denn noch treffen?«
»Das sieht Baz genauso«, erwiderte Salva. »Die Stelle zieht auch Selbstmordgefährdete an…«
»Was meintest du eigentlich eben mit den komischen Kyriacous?«, hakte Ernesto schließlich nach.
»Pscht, nicht so laut«, murmelte Salvador und deutete auf den kleinen Nebenraum des Ed’s, wo die beiden Billardtische standen. »Sam und Justin sind gerade da und nicht unbedingt bester Stimmung, würde ich sagen…«
Sam und Justin Kyriacou
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