Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
hasste Wärme. Aber auch architektonisch war der Raum eine schauderhaft kalte Angelegenheit.
»Mom?«
Sie war da. Sie schlief fest, lag dabei auf dem Rücken, die Arme links und rechts neben sich ausgestreckt. Sogar schlafend wirkte sie wie nicht von dieser Welt. »Hey Mom! – Sondra!«
Ernesto berührte ihren Arm, aber sie wachte nicht auf, murmelte nur etwas Unwilliges und drehte das Gesicht weg. Ihr Mascara war verlaufen, allein daran war ersichtlich, dass sie von der Sache mit Chazza wusste und die Tragödie tatsächlich wahrgenommen hatte.
Ernesto fröstelte. Draußen war es sommerheiß, ein krasser Gegensatz zur Temperatur im Kühlschrank. Ein Zimmer weiter lebte Natasha. Darayavahush hatte diesen Raum Polen getauft: Natasha benutzte den Temperaturregler ihres Zimmers gar nicht. Sie konnte Klimaanlagen nichts abgewinnen. Dafür konnte sie polnischem Nippes sichtlich eine Menge abgewinnen. Ihr Zimmer sprach Bände davon. Schwere polnische Möbel, Zierdeckchen in Hülle und Fülle, eine polnische Fahne als Mittelpunkt an den über und über mit Bildern behängten Wänden. Ein Bild der Warschauer Seejungfer, Natashas Vater stammte aus der Stadt, dazu eine wahre Flut von Bildern, die Krakau darstellten, wo auch Bartosz, Natashas Sohn, lebte.
»Nat? Bist du da?«, rief Ernesto probeweise und klopfte. Es gab eine direkte Verbindungstür zwischen Polen und dem Kühlschrank. In diesem Moment summte sein Handy. Ernesto zog es aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Die Nachricht stammte von Dara und hatte zwei Inhalte. Erstens: Dara, Salva und Mose waren im Ed’s und wünschten, ihn zu sehen, falls er »noch nicht mit Liberty Bell, der nackten Schönen, durchgebrannt sei«. Zweitens: »Es gibt Wahnsinnsneuigkeiten, Alter! Ich habe es getan!«
Ernesto schob sein Smartphone stirnrunzelnd zurück in die Hosentasche. Wie es aussah, hatte Chazzas Unfall noch nicht die Runde in Old Town gemacht, was merkwürdig war.
»Natasha?« Er klopfte ein zweites Mal und öffnete dann vorsichtig die Verbindungstür.
Sie war da, aber er begriff sofort, warum sie ihm nicht geantwortet hatte. Natasha hatte einen ihrer Durchhänger, wie sein Vater es nannte. Es waren diese Stunden oder, wenn man Pech hatte, auch mal ein bis zwei Tage, an denen die Haushälterin in ein düsteres Loch aus Schwermut sank. Dann saß sie einfach nur da, mit hängenden Schultern, krummem Rücken und gesenktem Kopf. Tränen rannen aus ihren Augen, liefen über ihr Gesicht und tropften von dort über ihr Kinn in ihren Schoß und auf ihre Hände, die sie gefaltet hatte, als würde sie beten.
»Ist es wegen Chazza. Oder wegen Mom? Hat sie dich – beschimpft?«
Das tat Mrs Merrill manchmal und es waren schreckliche Momente. Ernesto versuchte jedes Mal, die Erinnerung an dieses Geschrei so rasch wie möglich aus seinen Gedanken zu tilgen. »Du hast mir Unglück gebracht! Bestie in Menschengestalt! Wünsche dich tot und begraben!« Solche Sachen hatte Sondra Merrill ihrer polnischen Haushälterin schon an den Kopf geworfen. Hinterher weinte seine Mutter und ließ sich ausgerechnet von Natasha trösten und beruhigen.
»Soll ich… soll ich Bartosz anrufen, Nat? Möchtest du ihn sehen? Würde dir das helfen?«, fragte Ernesto leise. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. In Krakau war es jetzt früher Morgen. Möglich, dass er Bartosz aus dem Bett warf, wenn er jetzt via Skype bei ihm anrief, aber falls es Natasha nützen würde, war es das wert. Diese Skypeverbindung war im letzten Jahr sein Geburtstagsgeschenk für Natasha gewesen, eine einfache Sache, ein simples Geschenk, aber es war ihr Geheimnis, warum auch immer. Ernesto hatte nun mal das vage Gefühl, es sei besser, Bartosz-Zlotsky-via-Skype-in-Old-Town nicht an die große Glocke zu hängen.
Natasha gab keine Antwort, nur ihr Weinen wurde etwas heftiger. Das bedeutete ein Ja, das wusste Ernesto.
»Warte. Ich hole meinen Laptop«, sagte er.
Die Verbindung war schnell aufgebaut und funktionierte an diesem Spätnachmittag zum Glück bestens.
»Hier… hier ist er, Nat«, sagte Ernesto behutsam, fuhr der Haushälterin, die früher seine Kinderfrau gewesen war, über die weiche, runde Schulter und verließ den Raum. Er hatte schon miterlebt, wie diese Gespräche um den halben Erdball herum abliefen. Bartosz war als Kleinkind einmal sehr krank gewesen und darum war er klein und schmächtig geblieben, er sah der runden rosigen Natasha nicht ähnlicher als ein irgendwie abgenagter Apfel
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