Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Ernesto sah den dünnen Plastikschlauch, der unter ihrer Bettdecke hervorlugte, und wusste, was er bedeutete: Es war ein Blasenkatheter. Sogar die Möglichkeit, alleine pinkeln zu gehen, hatten sie ihr genommen.
»Werden… werden sie mich… zurückgehen lassen? Nach… Hause?«
Liberty Bells vom langen Schweigen heisere Stimme klang ängstlich und hoffnungsvoll zur gleichen Zeit. Ernesto dachte an die leer geräumte Hütte, an die Polizeiabsperrung, an das Steingrab, das keines mehr war. Annie Lyfords sterbliche Überreste waren jetzt Leihgut der unter Hochdruck arbeitenden Kriminalpolizei. Und anschließend würden die Knochen ihren Angehörigen übergeben werden, damit sie sie ordentlich beerdigen konnten. Wo auch immer. Wie sollte er das alles Liberty Bell erklären? Und war überhaupt er der Richtige, das zu tun?
»Liberty Bell, weißt du, w arum ihr da draußen gelebt habt, deine – Mom und du?«, fragte er schließlich und umschiffte die Antwort, auf die sie wartete. Verdammt, was für eine bescheuerte Frage war das denn? Ernesto hätte sie am liebsten zurückgenommen und in kleine Fetzen gerissen.
Erstaunlicherweise aber nickte Liberty Bell.
»Mom sagte immer, die Welt ist schlecht. Der große Vater hat die Schattenmenschen aufgegeben, weil sie voller Gewalt und Traurigkeit sind.«
Ernesto betrachtete Liberty Bells Gesicht. Es war immer noch schrecklich bleich und tiefe bräunliche Schatten lagen unter ihren Augen, aber sie war irgendwie wieder da. Und das hatte er geschafft, auch wenn das kaum zu glauben war!
In dem Moment schaute Dr. Bolino zur Tür herein. »Ernesto?«, sagte sie leise.
Ernesto drehte sich zu ihr um. »Was ist?«
»Könntest du…?« Sie machte ein vages Zeichen mit der Hand, seine Sachen zusammenzupacken, Rucksack, Jacke, Baseballkappe – und mit Sicherheit auch Sergeant Pepper. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, aber irgendetwas stimmte nicht. War es wieder Dr. Walther? Hatte er sein Veto eingelegt gegen Ernestos unkonventionellen Besuch mit Ratte bei seiner wichtigsten Patientin?
»Liberty Bell, ist es in Ordnung, wenn er morgen wiederkommt?«, fragte die Ärztin, indem sie sich direkt an das Mädchen wandte, und es war gut zu hören, dass sie mit Liberty Bell jetzt wie mit einem ganz normalen, gesunden Menschen sprach. »Bei ihm zu Hause hat es… sagen wir, einen kleinen Unfall gegeben. Er wird dort gebraucht.«
12
I m Haus war es still, als er die breite Haustür hinter sich schloss.
»Mom? – Dad? Natasha?«, rief Ernesto.
Er war sofort aufgebrochen und aus der Klinik nach Hause gefahren. Liberty Bell hatte stumm angefangen zu weinen, aber er hatte ihr versprochen, dass er wiederkommen würde, bald schon. Da hatte er noch gar nicht gewusst, was passiert war, das hatte Dr. Bolino ihm erst auf dem Flur draußen vor Liberty Bells Tür erzählt.
Verdammt, Chazza. Guter, alter Chazza Blume.
Er war im Wald draußen gestürzt, sie hatten ihn im verlassenen Steinbruch von Santa Clara Valley gefunden, mit einem schweren Schädelbruch. Die Ärzte hatten ihn operiert und in ein künstliches Koma versetzt, aber er war noch nicht außer Lebensgefahr.
Ernesto dachte daran, wie er gestern noch Klavier gespielt hatte, Klavier gespielt und seine aufgelöste Mutter wegen der toten Katze getröstet. Dann war er aufgebrochen zu einem seiner Waldspaziergänge.
»Dad? – Natasha? – Hallo, ist denn keiner zu Hause?«, rief Ernesto wieder.
Er schaute sich um. Der Salon lag wie ausgestorben da, klimaanlagengekühlt, sonnendurchschienen. Eine der beiden verbliebenen Katzen rekelte sich zwischen den beiden Marmorskulpturen, die vor dem großen Panoramafenster standen. Die Liebenden hießen sie und sie gehörten seinem Vater. Er hatte sie sich von einem Mailänder Künstler anfertigen lassen, als Ernesto noch ein Baby gewesen war, nach eigenen Entwürfen, teuer wie verrückt, aber Geld spielte ja nie eine Rolle.
Ernesto versorgte Sergeant Pepper, indem er ihn erst einmal in einer Katzentransportkiste seiner Mutter verstaute und ihm von dem Meerschweinchenfutter gab, das er besorgt hatte. Dann ging er ins erste Stockwerk hinauf. War seine Mutter in der Klinik bei Chazza? Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand jedenfalls offen, er warf einen Blick in den Kühlschrank, wie er das Zimmer seiner Mutter seit Jahren gedanklich nannte. Es war der kälteste Raum des ganzen Rampenhauses, Mrs Merrill pflegte ihr Thermostat nie höher als auf maximal achtzehn Grad Celsius einzustellen. Sie
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