Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
mal vorstellen…«
»Und jetzt wollen sie hier und heute feierlich ihre Knochen umarmen, oder was?«, fragte Darayavahush. Er imitierte eine Frauenstimme. »Oh, Annabelle, du hast dich ja gar nicht verändert. Deine Schädelknochen sind noch genauso apart wie früher! Wie schaffst du es bloß, so wahnsinnig schlank zu bleiben?«
»Lass das, Idiot«, fuhr ihn Salvador an. »Das ist nicht witzig. Sei froh, dass Ern das nicht gehört hat.«
»Sabber nicht, Dalí«, gab Dara Salvas Anschiss an dessen Hund weiter. »Ich möchte Ronans Bude nicht in Hundespucke schwimmend verlassen, okay?«
Genau in diesem Moment schaute Ronans Vater zur Tür herein. Er war der kleinste Mann von Old Town und Ronan hatte seine Kindheit über eine Menge Hänseleien deswegen hinnehmen müssen.
»Wie schafft ihr es eigentlich, dass dein Dad euch nicht verloren geht?« und »Kauft dein Vater seine Anziehsachen eigentlich in der Kinderabteilung?« und solche Sachen. Ein beliebter Spruch war auch gewesen: »Hey, da kommt Mr Horace, der laufende Meter-fünfzig…«
»Ja, fertig, Dad«, sagte Ronan und verschloss seinen Alukoffer.
»Na, dann kann es ja losgehen. – Schade, dass ich hierbleiben muss. Aber die Bank hat eben keine Sommerferien.« Mr Horace lächelte in die Runde. Man sah ihm den Bankdirektor nicht wirklich an. Er steckte zwar in teuren, maßgeschneiderten Anzügen und vergaß nie seine Manschettenknöpfe und eine teure Krawatte und die passende Krawattennadel dazu, aber er ging gerne barfuß, auch draußen. Dabei schaffte er das Unglaubliche: niemals sichtbar schmutzige Füße zu haben.
»Er muss zwischendurch dauernd Boxenstopp in Toilettenräumen machen, seine Haxen ins Waschbecken manövrieren und dort abseifen. Anders kann es nicht funktionieren«, hatte Darayavahush einmal gemutmaßt, als sie über Mr Horace Barfußgeschäftsgänge gesprochen hatten.
Auch heute hatte Mr Horace keine Schuhe an. »Wo stecken denn Jaden und Ernesto?«, fragte er leutselig.
»Jaden schmollt irgendwie – und Ern ist irgendwie verschollen«, war Ronans achselzuckende Antwort. Mr Horace lachte zu diesem Wortspiel wider Willen.
»Verdammt, nun hab dich nicht so, du blödes Biest«, knurrte Ernesto erschöpft. Zuerst hatte er gedacht, diese Viecher seien generell wild, dann hatte er durch die Nacht in Liberty Bells Hütte gelernt, dass sie durchaus zahm sein konnten, dennoch waren sie alle wild genug, um, ohne mit der Wimper zu zucken, in ihr altes Leben zurückzukehren, nachdem ihre Brotgeberin so plötzlich abtransportiert worden war. Dann wiederum hatte Ernesto ein einzelnes verbliebenes Vieh entdeckt, das so zahm war, dass es im Vertrauen darauf, Liberty Bell eines Tages wiederzusehen, still und ergeben in der kleinen Hütte auf diese Rückkehr gewartet hatte. Nä? Nä? Nä? hatte es hoffnungsvoll gequäkt, als Ernesto sich ihm leise näherte. Jetzt aber, in Ernestos Obhut, war das Vieh wilder denn je. Es musste eines der Kleinen sein, Eve war es jedenfalls nicht, die war auf und davon. Aber ein Eve-Nachkomme war besser als nichts, hoffte Ernesto. Auch wenn er schon drei Bisse abbekommen hatte von dem rattigen, struppigen Vieh. Zwei davon bluteten.
In der vergangenen Nacht war ihm dieser Einfall gekommen.
Wieder war es eine blöde Nacht gewesen. Seine Mutter weinte um die gestorbene Katze Nummer drei – ah, endlich bemerkt –, Natasha hatte einen ihrer düsteren Momente und es dauerte darum länger, bis sie es schaffte, Mrs Merrill zu beruhigen. Dr. Merrill war außer Haus und Chazza Blume war von seinem letzten Waldgang noch nicht zurückgekehrt.
Mitten in dieser unruhigen Nacht war Ernesto Eve eingefallen. Eve und ihre hässlichen Nachkommen. Wo waren sie jetzt? Immer noch in Liberty Bells Hütte? Unwahrscheinlich, bei den Massen an Menschen, die dort ständig einfielen. Aber vielleicht noch in der Nähe? Am Ufer dieses Tümpels? Oder in dessen Tiefen? Was war mit den anderen Biberratten? Hatte man sie freigelassen? Und wie stand es überhaupt um die Hütte? War sie nach wie vor Sperrgebiet?
Um fünf hielt Ernesto es nicht mehr länger aus, schlich sich aus dem Haus und machte sich auf den Weg. Nicht mal Radio hören konnte er vor lauter Nervosität. Er fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit den Chinook Drive entlang und betete, dass so früh am Morgen noch keine Polizisten in den Büschen am Wegrand lauerten, die darauf aus waren, Verkehrssünder auszubremsen.
Die Hütte war verschlossen, aber sie hatten sie nicht umsonst
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