Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Familienangelegenheit. – Da stört ihr nur, verdammt. Komm, Kleine…«
Ihre Arme waren so dick und ihr Oberkörper dazwischen so ein gigantischer Wulst, dass sie es nur mit Mühe schaffte, das dicke, speckig wirkende Album in ihren Händen gerade zu halten.
»Bilder«, sagte sie. »Ich musste sie erst suchen. Ist ja nicht so, dass ich nichts anderes zu tun hätte, als Tag für Tag die alten Aufnahmen der Kleinen im Auge zu behalten…«
»Liberty Bell«, sagte Ernesto, während Mrs Kyriacou das Album aufschlug und mühsam darin herumblätterte. Liberty Bell zitterte in seinem Arm, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, seit er im Raum war.
Abel, Tiger und Dave öffneten sich unterdessen geräuschvoll Bierdosen und warfen sich auf ein zweites Sofa, das mitten im Raum herumstand, weil es zum Fernseher hin ausgerichtet war. Salvador hatte Brian, der stöhnte und sich die Nase hielt, ins Freie begleitet, während Mose und Dara sich dicht neben Ernesto hielten.
»Ich… ich musste sie einfach sehen«, sagte Liberty Bell leise und wand sich aus Ernestos Arm. »Kannst du das – verstehen?«
Ehe Ernesto eine Antwort geben konnte, erklang erneut Mrs Kyriacous Stimme. »Schätzchen, was ist nun?«, sagte sie und auf einmal klang ihre Stimme belegt. Sie drehte den Kopf und deutete schwerfällig mit dem Kinn neben sich auf das winzige Stück Sofa, das noch übrig war. »Komm, setz dich zu mir. Ich bin deine Grandma, es ist also nichts dabei, wenn du dich neben mich setzt. Fremde mag ich nicht, aber du gehörst ja wohl zur… Familie.«
Plötzlich rollten Tränen über ihr aufgedunsenes Gesicht, rieselten über das Kinn und tropften auf ihr gigantisches T-Shirt. »Macht mal den Fernseher leiser, Jungs. Seid so gut.«
Erstaunlicherweise gehorchten sie.
Ernesto sah Liberty Bell von der Seite an. Ihre Ohrläppchen waren zart und angewachsen, ihr Gesicht immer noch blass, aber nicht mehr so krankhaft blass wie vor zwei Wochen. Unter den Augen waren sogar schon wieder ein paar vereinzelte Sommersprossen zu erkennen. Die tiefen Schatten waren verschwunden. Ihre Nase war schmal und gerade, ihr Mund wunderschön, aber in diesem Moment ein Strich. Sie sah wahnsinnig ernst und angespannt aus. Ernesto sehnte sich danach, sie zu umarmen, mit ihr draußen in der freien Natur zu sein, ihr zu sagen, dass es im Grunde doch völlig egal sei, von wem man abstamme, und dass es doch nur auf das Jetzt ankam.
Aber er schwieg und sah zu, wie sie sich schon im nächsten Moment mit entschlossener Miene in die winzige Lücke neben der dicken, atemlosen Frau quetschte, deren Gesicht voller Schweiß und Tränenspuren war.
»Was bist du für ein – dünnes Persönchen«, murmelte Mrs Kyriacou und versuchte, sich mit einem ihrer schwammigen Handrücken hastig den strömenden Schweiß von der Stirn zu wischen. Dabei geriet sie ins Schwanken und lehnte mit einem Mal schwer gegen Liberty Bell. Gleichzeitig rutschte ihr das Fotoalbum aus der anderen Hand. Liberty Bell fing es auf und hielt es fest.
»Sorry, mein Schätzchen. Sorry. Sorry. Sorry«, flüsterte Mrs Kyriacou, die jetzt um einiges blasser war als Liberty Bell an ihrer Seite.
»Ist schon gut«, antwortete Liberty Bell.
»Ekele dich bitte nicht vor mir, Kleine«, bat Ruby Kyriacous Mutter. »Ich… ich war auch mal jung und hübsch wie du. Kannst du mir das glauben? Es ist nämlich die Wahrheit, Schätzchen. Aber dann habe ich vierzehn, nein, sogar fünfzehn Kinder bekommen…«
Fünfzehn Kinder. Und eins davon war Ruby Kyriacou gewesen.
»Ruby Rain Kyriacou«, erklärte Mrs Kyriacou. »Ich habe allen meinen Kleinen zwei Vornamen gegeben, weißt du. Falls ihnen der erste später mal nicht gefallen könnte.«
Liberty Bell nickte. »Das ist eine… eine nette – Idee«, sagte sie leise. »Rain…«
»Da. Das ist sie. Schau«, fuhr Mrs Kyriacou fort und platzierte schwerfällig einen Finger auf einer alten Aufnahme, auf der ein kleines Mädchen in rosa Badesachen in einem Planschbecken saß. »Meine kleine Ruby.«
»Das ist sie?«, wiederholte Liberty Bell und beugte sich leicht nach vorne, um das Bild besser sehen zu können.
Mrs Kyriacou nickte. »Auch so ein dünnes Persönchen wie du, nicht wahr?«, sagte sie.
»Ernesto, sieh mal«, bat Liberty Bell leise und drehte sich nach Ernesto um. Von hinten beugte er sich über das alte, zerbeulte Sofa.
»Hey Mom, ist doch noch gar nicht raus, ob die Kleine wirklich von Fatty abstammt«, rief
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