Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
verzweifelte Zeit im Krankenhaus, als die Ärzte sie per Magensonde ernährt hatten, das heutige Zusammentreffen mit der Miseryfamilie und schlussendlich das Wissen, dass, seit all das geschehen war, die Unglücksfälle in Old Town sich häuften?
Er hätte sie gern gefragt. Es gab so vieles, was er sie gern gefragt hätte. Aber er wusste, er würde sich gedulden müssen.
»Bitte, es ist wichtig, Mrs Kyriacou«, drängte er und fuhr sich durch die wirren Haare.
»Warum? Warum willst du die Kleine sprechen?«, fragte Mrs Kyriacou misstrauisch. Sie hielt einen leicht dunkelhäutigen Säugling auf dem Arm, der leise quengelte. Mrs Kyriacou klopfte ihm den Windelpo und schuckelte ihn auf ihrer Schulter hin und her. Ihre Haare waren mindestens so zerzaust wie Flavios, sie roch nach Schnaps und sah genervt und gereizt aus.
»Ich will – mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist mit ihr, dass es ihr gut geht.«
Der alte Flavio trat von seinem gesunden Bein auf sein Holzbein und verlagerte sein Gewicht anschließend wieder zurück.
Mrs Kyriacou kniff die Augen zusammen. »Hast du – ihr etwa was getan? Ist es das? Hast du… irgendwas… Ich meine…«
Sie hielt inne.
Der alte Flavio schüttelte hastig den Kopf und schaffte es endlich, still stehen zu bleiben.
»Na also. Wenn du keinen Dreck am Stecken hast, weiß ich nicht, was du von ihr willst«, sagte Mrs Kryriacou müde. »Im Übrigen ist Ruby krank. Sie schläft… Und wenn sie zwischendurch mal die Güte hat, wach zu werden, dann pinkelt sie die Laken voll oder redet wirres Zeug, wie üblich. Ich glaube immer mehr, dass sie einfach nicht alle Tassen im Schrank hat. Auch wenn man das über sein eigenes Kind eigentlich nicht sagen soll…«
Zwei Tage später hatte Flavio mehr Glück.
»Da… da bist du ja«, sagte er und trat schwerfällig aus dem Dickicht. Ruby fuhr zusammen. Es war fast dieselbe Stelle wie die, an der sie vor ein paar Tagen gegen ihn geprallt war, mit diesem entsetzten Ausdruck in ihrem schneeweißen Gesicht…
»Geht es dir wieder besser? Deine Mutter sagte, du seiest krank gewesen?«
»Ich… ich …«, stammelte sie und verstummte wieder. Ihr Blick war gehetzt. Sie erinnerte den alten Flavio an ein verängstigtes, verletztes Tier.
»Ich tue dir nichts, Ruby«, sagte er und hörte selbst, wie unsicher seine Aussprache klang. Das kam nur vom vielen Alkohol. Er war im Grunde nicht besser als dieser verdammte Kyriacou-Clan. Auch er ertränkte seine Gefühle, seine Ängste, seine Wut in Alkoholfluten. Obwohl er an diesem Nachmittag nüchtern war. Es war ihm schwergefallen, aber er hatte sich vorgenommen, Ruby Kyriacou zu finden. Und dazu hatte es einen klaren Kopf gebraucht.
»Was – was wollen Sie von mir?«, flüsterte Ruby und knetete ihre dicken Finger. Sie sah immer noch elend aus, die Augen in tiefen Höhlen, die Haare strähnig und sie ging leicht vornübergebeugt, als habe sie Schmerzen. Gespenstig fern schien dem alten Flavio die Erinnerung an das kleine, feenartig blonde Mädchen, das Ruby einmal gewesen war.
Er überlegte einen Moment, ehe er antwortete. »Es ist wegen neulich Abend«, sagte er dann schlicht. »Du – du sahst so verzweifelt aus, als wir uns – begegnet sind. So erschrocken. Ich wüsste gerne, ob…«
»Sie tun mir – nichts?«, flüsterte Ruby und unterbrach so seine angefangene Frage.
»Nein. Nichts. Ganz sicher nicht«, sagte Flavio leise, verzichtete auf seine Frage und wartete fast eine Stunde. Wolken zogen über den Himmel, Krähen krächzten, Wind kam auf und verging wieder. Flavio rührte sich nicht vom Fleck, während Ruby ein paar Meter weiter auf einem Stein saß und durch ihr zu langes, fettiges Stirnpony ins Leere stierte.
Und auf einmal konnte sie reden.
»Im Grunde ist jetzt sowieso schon alles egal…«
Damit begann sie.
Sie gab nicht alles preis, aber Flavio konnte sich ein vages Bild machen. Der Panther. Nackte Füße. Gewalt. Sonnenschein. Die Lichtung im Wald.
»Du lieber Himmel…«, sagte er, als sie schließlich verstummte.
Ruby hob den Kopf. »Der Himmel ist nicht lieb«, sagte sie heftig.
Ihre Blicke trafen sich und Flavio sah seine Bilder aus Vietnam, Bilder von sterbenden Kindern, an deren Tod er mitschuldig war, Kinder so alt wie das hier, während Ruby Kyriacou den Panther und diesen Wald vor Augen hatte.
»Nein«, räumte er ein und versuchte, die Floskel zu erklären. »Der Himmel, Gott… Wahrscheinlich müssen wir unser Leben letztlich selbst in die Hand
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