Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Kyriacou nickte. »Ja. Hm. Rubys… Kleine«, sagte sie und drückte Liberty Bells Hand, während Sam und Justin sich lautstark mit Abel, Tiger und Dave zu streiten begannen, und die beiden Kleinen unbeeindruckt von dem ganzen Emotionsdurcheinander einen Kinderkanal einschalteten. Das Kleinere der beiden erklomm anschließend Mrs Kyriacou, als sei sie mindestens die Rocky Mountains und streichelte ihr dickes, rot geflecktes Gesicht.
Baz schaffte es schließlich, das ganze Chaos irgendwie in den Griff zu kriegen, und eine halbe Stunde später konnten sie, unbehelligt von weiteren Attacken der Kyriacou-Brüder, mit Liberty Bell das Haus verlassen.
Nun kauerte sie auf dem Beifahrersitz neben Ernesto. Dieses Mal hatte sie keine Augen für die vorüberfliegenden Bäume zu beiden Seiten der Straße. Dieses Mal saß sie mit geschlossenen Augen da, den Kopf starr gegen die dunkle Kopfstütze gepresst. Wie beim letzten Mal hielt sie sich an den Rändern des Sitzes fest.
Salvador war mit Dalí und Brian bei Baz mitgefahren.
»Du bringst sie auf dem direkten Weg zurück in die Klinik, Ern? Versprochen?«, hatte Baz beim Losfahren eindringlich an Ernesto gewandt gesagt.
»Muss das sein? Was soll sie da? Sie ist nicht mehr krank, oder? Die Kopfverletzung ist längst verheilt«, stieß Ernesto unwillig hervor. Er dachte an das, was Salva ihm über die geplante Heimunterbringung von Liberty Bell in Village erzählt hatte. Liberty Bell selbst schwieg und schaute immer noch zu dem Kyriacou-Haus hinüber, das sie gerade verlassen hatten. Sie sah blass und erschöpft aus.
Baz seufzte. »Ja, aber darum geht es nicht alleine«, sagte er und half Brian, der sich schützend die angeschwollene Nase hielt, auf den Beifahrersitz. Dalí erklomm unterdessen die Rückbank.
»Worum geht es dann?«, hakte Ernesto ärgerlich nach.
Baz’ Antwort drehte sich dann hauptsächlich um Liberty Bells fehlende Papiere. Dass es sie, laut amerikanischem Recht, streng genommen immer noch gar nicht gab, sie hatte ja nicht mal eine Sozialversicherungsnummer, und natürlich um die fehlenden Entlassungsunterlagen, die von Dr. Walther unterschrieben werden mussten.
»Das sind doch Bullshitgründe, weiter nichts«, murmelte Ernesto ärgerlich.
»Da bin ich ganz bei dir, Ern«, sagte Baz. »Aber dran halten musst du dich trotzdem, okay? So ist eben die Gesetzeslage.«
Ernesto hatte widerwillig genickt. Was hätte er sonst tun sollen?
Und nun saßen sie hier zusammen im Beetle und Ernesto fuhr schweigend in den Abend hinein. Seine Hand lag vorsichtig auf Liberty Bells Bein, während Liberty Bell immer noch die Augen fest geschlossen hielt.
Es war natürlich Dara auf der Rückbank, der das Schweigen brach. »Vielleicht hat er mich doch angelogen«, sagte er plötzlich.
»Wer oder was hat dich angelogen?«, fragte Mose neben ihm. »Sprich nicht in Rätseln, Dara, sei so gut.«
»Der alte Flavio natürlich, als er behauptete, vietnamtechnisch impotent zu sein. – Ich meine, das ist doch sonnenklar, dass er der Kerl war, der Ruby damals…«
Dara hielt inne und warf einen entschuldigenden Blick nach vorn zu Liberty Bell.
Mose schüttelte unterdessen den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Aber es passt. Er hatte was mit der Kleinen. Warum sonst sollte er damals bei den Kyriacous aufgetaucht sein? Und dann noch der Brief von vor seinem Tod, der zurückgekommen ist. Das ist doch eindeutig.«
»Hush, der alte Flavio doch nicht!«, regte Mose sich auf. »Hast du vergessen, wie er war? Er hätte niemals etwas mit einer Vierzehnjährigen angefangen. – Hallo? Und er hätte auch nie ein – neugeborenes Kind im Wald zurückgelassen.«
»Damals war er noch ein Säufer«, sagte Dara leise. »Und Säufer sind – unberechenbar, oder?«
Mose wollte etwas erwidern, aber Ernesto warf ihm einen bösen Blick zu. Liberty Bell war erstarrt, man konnte ihre Anspannung förmlich spüren.
»Klappe«, zischte er.
Wie, um Himmels willen, musste sich das alles für sie anfühlen? Wie ertrug sie den ganzen Mist? Das zurückgelassene Neugeborene eines missbrauchten Mädchens zu sein, das mit Sicherheit längst tot war? Wie musste es sein, in völliger Einsamkeit aufzuwachsen, die Pflegemutter, den einzigen Menschen, den sie gekannt hatte, sterben zu sehen, dann der Tag, drei Jahre später, als Jaden und Cal ihr so brutal im Wald aufgelauert hatten, die Fernsehsender in dröhnend lauten Hubschraubern, die über sie hergefallen waren, der Unfall und der Sturz, die
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