Liberty: Roman
ich.
»Meine Tochter ist acht. Außerdem wohnt mein Neffe bei uns, er ist fünfzehn. Solja und Mika.« Sie nimmt mir die Tasche ab. »Wir werden jetzt zu uns nach Hause fahren und etwas essen, wir veranstalten ein kleines Willkommensfest für euch. Wir haben ein neues Haus.«
»Ohne Ratten?«, erkundigt sich Vater.
»Ja«, sagt Katriina. »Und wir haben ein Kindermädchen, das Marcus heißt.«
»Einen Mann?«, fragt Vater.
»Einen Jungen«, erwidert Katriina. »Er ist Waise und war bei ein paar Deutschen, die zurückgegangen sind. Solja und Mika haben ihn gefunden. Er hat beim Pastor in Moshi gewohnt, der ihn zur Feldarbeit missbrauchte.«
Wir gehen zum Auto, einem weißen Peugeot 504 mit dem Lenkrad auf der falschen Seite. Absolute samtweiche Dunkelheit. Wir passieren einen Wachtposten mit Schlagbaum, verlassen das Flughafengelände und fahren durch die Nacht. Die Straße ist gerade, die Landschaft eben. Keine Straßenbeleuchtung, keine Gebäude. Die Lichtkegel der Frontscheinwerfer fegen über graugrünes Gebüsch am Straßenrand.
Vor drei Monaten begann Vater als Chef der Buchhaltung einer Zuckerplantage, die TPC heißt – Tanzania Planting Corporation. Sie gehörte der Reederei Mærsk, wurde aber von der tansanischen Regierung verstaatlicht. Doch für die nächsten Jahre hat Mærsk noch einen Vertrag und soll den Eingeborenen beibringen, die Plantage zu betreiben. Sie liegt ein Stück südlich der Stadt Moshi, in der auch die Schule ist. Vater dreht sich auf dem Vordersitz um.
»Bist du okay, Christian?«
»Wann fahren wir zu unserem Haus?«, möchte ich wissen.
»Später«, sagt Vater. »Es ist erst sieben.« Er hat mir erzählt, dass die Dunkelheit am Äquator früh und sehr plötzlich kommt. Mein Kopf fühlt sich leicht an. Ich könnte töten für eine Zigarette.
»Okay«, sage ich und schaue aus dem Fenster, der Himmel ist mit klaren Sternen übersät, die sich bis zum Horizont erstrecken.
Wir erreichen eine T-Kreuzung, an der Holzschuppen und kleine gemauerte Häuser ein schwaches Licht in die Dunkelheit werfen. Es sind Läden auf bloßem Erdboden. Dunkle Gestalten bewegen sich zwischen ihnen. Wir biegen rechts ab in Richtung Moshi.
»Dies ist eine der besten Straßen des Landes«, erklärt mir mein Vater. »Fast keine Schlaglöcher.« Die Dunkelheit hüllt uns völlig ein. Es gibt so gut wie keinen Verkehr, und Katriina fährt schnell. Die Straße beginnt, kurviger zu werden, und führt bergab in eine Schlucht – die vorderen Scheinwerfer erleuchten steile Felswände auf beiden Seiten.
»Was ist das denn!?«, stößt Katriina aus und tritt die Bremse durch, gleichzeitig reißt sie das Lenkrad herum, um einem großen belaubten Ast auszuweichen, der auf unserer Seite der Straße liegt. Die Bremsen blockieren, der Wagen rutscht auf den Ast und schiebt ihn vor sich her, bis wir zum Stehen kommen.
»Dort hält jemand«, sagt Vater. Ein Stück weiter vorn kann ich undeutlich einen dunklen Kasten erkennen, die Scheinwerfer liefern nur ein diffuses Licht durch das Laub des Asts.
»Straßenräuber?«, fragt Katriina.
»Glaub ich nicht«, erwidert Vater und öffnet die Tür. »Der Ast ist ein tansanisches Warndreieck.« Ich steige ebenfalls aus und helfe ihm, den Ast von der Frontpartie des Wagens zu ziehen, während Katriina zurücksetzt. Wie ich jetzt erkennen kann, handelt es sich bei dem Kasten um einen Lastwagen, der an eine der Felswände geprallt ist und quer auf der Fahrbahn steht – ein großer frischer Zweig steckt an der hinteren Stoßstange. Wir schleppen den Ast wieder an seinen Platz auf der Fahrbahn. Bei dem verunglückten Lastwagen sehe ich niemanden mehr.
»Was glaubst du, ist passiert?«
»Bremsversagen«, meint Vater. »Der Fahrer ist vermutlich gegen den Felsen gefahren, um den Laster zu stoppen.« Wir setzen uns ins Auto.
»Teufel auch!«, schimpft Katriina und schlägt aufs Lenkrad, bevor sie den Gang einlegt und langsam anfährt. Wir kommen gerade so vorbei. Vater dreht sich zu mir um, als die Straße am Fuß der Schlucht wieder flacher wird.
»Am Tag kann man hier unten eine Menge Autowracks sehen.«
Nach zwanzig Minuten erreichen wir den Stadtrand und biegen auf kleinere Straßen ab.
»Wieso riecht’s hier so nach Kuhscheiße?«, frage ich.
»Die Massais treiben ihr Vieh hier durch, wenn sie zum Schlachthof auf der anderen Seite der Stadt wollen«, erklärt Vater.
»Jetzt sind wir gleich da«, sagt Katriina und biegt auf einen mit Schlaglöchern übersäten
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