Licht
wirklich, ich wär allein gekommen?«
»Das ist ein triftiges Argument«, sagte Ed an Annies Adresse.
»Da draußen ist keiner«, sagte Annie. »Nur die Nacht.«
Annies freie Hand kam hoch, krümmte sich um Bellas Hals, bis Daumen und Finger sich begegneten. Bella machte ein Geräusch. Ihr Gesicht lief rot an, sie drosch wie ein Baby mit den Armen. Ein Schuh fiel ihr vom Fuß.
»Jesus, Annie«, sagte Ed. »Lass sie runter. Wir müssen weg von hier.«
Feststand, dass es ihn mit tiefer Sorge erfüllte, eine von den Cray-Schwestern so behandelt zu sehen. Seine neue Persönlichkeit verdankte er der Tatsache, Opfer zu sein. Bella war allgegenwärtig. In dieser Stadt zumindest war sie auf Breitband, landesweit. Sie verdiente an jedem, der vorbeikam. Sie hatte überall ihre Finger im Spiel, ob Terra-Heroin oder Geschenkpapier. Bella kaufte bewaffnete Punks und Kinder der Liebe. Zur Entspannung trug sie ein Pflaster, das ihr jederzeit einen Orgasmus besorgen konnte, der darin gipfelte, dass sie ihren Mister Lucky wie eine Gottesanbeterin genüsslich verspeiste. Das war die Frau, die ihm Rache geschworen hatte, Rache für den Mord an ihrer Schwester. Wenn sie in ihrem eigenen Revier so mir nichts dir nichts aufkreuzen konnte, wie sollte er sich da noch verstecken? Außerdem belegte der Inhalt der Mülltonne mit Nachdruck, dass sich niemand lange gegen Bella Cray behaupten konnte. Er schauderte.
»Es zieht Nebel herauf, Annie«, sagte er.
Annie las Bella die Leviten: »Weißt du überhaupt, was das für Folgen hat? Du lebst nicht in einem Twinktank.« Sie zwang Bella, in die Mülltonne zu blicken. »Ich will, dass du kapierst, was du anrichtest«, sagte sie. »Was du tatsächlich anrichtest!«
Bella versuchte zu lachen. Herauskam: »Gack, gack, gack.«
Annie packte fester zu. Bellas Gesichtsfarbe wurde dunkler. Ein weiteres gequetschtes »Gack« und Bella erschlaffte. Im selben Augenblick schien Annie das Interesse an ihr zu verlieren. Sie ließ Bella fallen und nahm stattdessen die Handtasche auf. »He, Ed, guck mal! Lauter Geld!« Die großen Hände bündelten das Geld, hielten es hoch und Annie lachte wie ein Kind. Annies Freude war immer unbändig. Sie war ein Rikschagirl. Was sie auch tat, sie tat es mit Leib und Seele. In einer anderen Zeit hätte man sie für naiv gehalten, doch das war sie nun gar nicht. »Ed, so viel Geld hab ich noch nie gesehen!« Während sie es zählte, rappelte sich Bella Cray vom Beton auf und humpelte rasch von dannen und in den Nebel hinein. Sie schien ein wenig Schlagseite zu haben.
Ed hob die Chambers – zu spät. Bella war nicht mehr zu sehen. Er seufzte.
»Mir schwant nichts Gutes«, sagte er.
»Mir schon«, sagte Annie. Sie rollte das Geld zusammen. »Bei mir ist es besser aufgehoben als bei der kleinen Kuh. Wirst schon sehen.«
»Sie gibt keine Ruh, bis du genauso tot bist wie die beiden.«
Als es schon dämmerte, zog das ungleiche Paar die Mülltonne vom Beton in die Dünen hinaus, wo Ed Tig und Neena im Sand begrub und zu guter Letzt das Monster-Beach-Schild auf den Hügel pflanzte. Annie stand noch einen Moment lang im Nebel, ehe sie sagte: »Tut mir Leid, das mit deinen Freunden, Ed«, dann ging sie nach Hause, um sich schlafen zu legen. Ed blieb, bis sich der Nebel lichtete, die Seevögel ihre Stimme erhoben und der anlandige Wind das Helmgras zauste, und dachte an Neena Vesicle und wie sie, wenn er in ihr war, gezittert und gesagt hatte: »Stoß fester. Oh. Mich.« Für Ed änderte sich in dieser Nacht etwas. In der nächsten Vorstellung träumte er sich geradewegs durch seine Kindheit hindurch an einen anderen Ort.
25
Von der Gottheit verschluckt
Michael und Anna Kearney, mit ihrem britischen Akzent, der sorgfältigen Kleidung und dem leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht, fuhren wieder von New York City aus nach Norden. Diesmal hatten sie es nicht eilig. In den Außenbezirken mietete Kearney einen kleinen grauen BMW; sie machten einen Abstecher in den Norden von Long Island, fuhren aufs Festland zurück und folgten der Küste in Richtung Massachusetts.
Egal, was ihnen ins Auge sprang, sie hielten an und nahmen es in Augenschein, alles, worauf die Highway-Schilder hinwiesen, mochte von Interesse sein. Abgesehen vom Meer, gab es allerdings nicht viel Sehenswertes. Kearney, mit der Miene eines Mannes, der plötzlich imstande ist, seine Vergangenheit zu akzeptieren, durchkämmte die Flohmärkte und Secondhandläden jeder Stadt, durch die sie kamen, und
Weitere Kostenlose Bücher