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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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gaben vor, sich für eines der exotischen Exponate zu interessieren, kreisten um das winzige Sichtfenster, wandten sich ab und taten so, als müssten sie kotzen. Bezeichnend war, dass der eine immer das Gelände im Auge behielt, während sich der andere über das Bullauge beugte. Ed war noch gut zwanzig Meter entfernt, als er seelenruhig abbog und sich unter die Leute mischte. Doch sie mussten ihn bemerkt haben, denn in der Nacht darauf in East Dub versuchte ihn eine Bande bewaffneter Knirpse, die sich die Skeleton Keys of the Rain nannten, mit einer Nova-Granate zu töten.
    Ihm blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Es tat einen dumpfen klatschnass klingenden Schlag. Zur selben Zeit schien alles gleichzeitig heller und blasser zu werden. Direkt vor seinen Augen erlosch die halbe Straße und trotzdem verfehlten sie ihn.
    »Jesus«, flüsterte Ed und wich in eine Schar von Prostituierten zurück, die zugeschnitten waren auf das Aussehen und Gebaren von angeblich fickgeilen sechzehnjährigen Japanerinnen im Internet des späten zwanzigsten Jahrhunderts. »Das musste nicht sein.« Er betastete sein Gesicht. Es fühlte sich heiß an. Die Prostituierten torkelten mit nervösem Gekicher herum, die Kleidung in Fetzen, die Haut krebsrot. Als er wieder denken konnte, suchte Ed im Laufschritt das Weite. Er lief, bis er nicht mehr wusste, wo er war, außer dass er sich auf einem mitternächtlichen Müllplatz befand. Der Kefahuchi-Trakt beanspruchte beinah den ganzen Himmel und wuchs und wuchs, je länger man hinsah, wie ein Dschinn aus der Flasche, allerdings ohne wirklich größer zu werden. Der Trakt sei eine Singularität ohne Ereignishorizont, hieß es; dort seien die falschen Naturgesetze auf freiem Fuß. Von dort könne alles Mögliche ausgehen, aber es unterblieb. Es sei denn, überlegte Ed, was hier draußen vor sich geht, ist bereits eine Auswirkung dessen, was da drinnen passiert… Er starrte nach oben und dachte lange und eingehend über Annie Glyph nach. Es war eine Nacht wie diese, als er ihr begegnet war, flackernder Kefahuchi über Müllkippen. Er hatte nur »Annie« gesagt, und das hatte sie ins Leben zurückgeholt. Jetzt war er für sie verantwortlich.
    Er kehrte zum Zirkus zurück. Annie schlief. Das Kabuff war angefüllt mit ihrer trägen, friedvollen Wärme. Ed legte sich neben sie und grub sein Gesicht in die Kurve zwischen Hals und Schulter. Zwei, drei Atemzüge später wachte sie halb auf und machte ihm Platz in der Bucht ihres Körpers. Er legte ihr die Hand auf den Bauch, und sie gab ein großes wohliges Knurren von sich. Bevor ihr seinetwegen etwas zustieß, würde er New Venusport verlassen müssen. Er würde sie zurücklassen müssen. Wie sollte er ihr das beibringen? Er wusste es nicht.
    Sie musste seine Gedanken gelesen haben, denn ein paar Nächte später kam sie von der Arbeit und sagte: »Was ist los, Ed?«
    »Ich weiß nicht«, log er.
    »Wenn du es nicht weißt, dann solltest du es herausfinden«, sagte sie.
    Peinlich berührt starrten sie einander an.
     
    Am kühlen, hellen Morgen wanderte Ed gerne auf dem Zirkusgelände umher; wechselte vom Salzgeruch der Dünen in den des warmen, staubigen Betons zwischen den Zelten und Pavillons.
    Warum hatte Sandra Shen sich ausgerechnet den Freihafen ausgesucht? Hier landete, wer keine Referenzen vorzuweisen hatte. Wer hier abhob, hatte niemanden, der ihm die Daumen drückte. Der Hafen war ein Durchgangslager, in dem EMC Flüchtlinge auf ihre Eignung testete, ehe man sie zu den Minen verschiffte. Der Papierkram konnte ein Jahr Freihafen bedeuten, ein Jahr, in dem die eigene Dummheit die Gelegenheit beim Schopfe packen würde, um daraus zehn zu machen. Das Schiff rostete, das Leben rostete. Aber man konnte den Zirkus besuchen. Und genau das gab Ed zu denken. Was war mit Madame Shen? Saß sie auch hier fest?
    »Ist dieser Laden jemals unterwegs gewesen?«, fragte er sie. »Ich meine, das gehört sich doch für einen Zirkus. Immer wieder mal eine andere Stadt.«
    Sandra Shen bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick, ihr Gesicht alterte und verjüngte sich und alterte, abgesehen von den Augen, als seien die der einzige Fixpunkt ihrer Persönlichkeit (falls es Sinn macht, dieses Wort auf einen Algorithmus anzuwenden). Sie sahen aus wie Augen, die aus Spinnweben blickten. Neben ihr stand ein frischer Drink. Der kleine Körper lehnte rücklings an der Bar, Ellbogen auf dem Tresen, einen von zwei roten Stöckelschuhen in das Fußgeländer aus Messing gehakt.

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