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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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sie nicht wissen konnte, dass du da warst.
    Konnte man diesen Widerspruch auflösen? Vesicle glaubte, ja. Falls es ihm jemals gelang, würde ihm das etwas über das Universum verraten oder, was nicht minder wichtig war: über die Menschen. Ihm war, als wisse sie, dass er da sei. Sie ist kein Pornostar!, sagte er sich jedes Mal.
    Er träumte seinen billigen, trostlosen Neue-Menschen-Traum – derweil Stöhner gähnte und nagelneue gelbe Mickymaus-Shorts mit dicken Knöpfen und passenden Hosenträgern anprobierte –, als die Tür der Tankfarm aufflog und einen kalten grauen Windstoß und sechs oder sieben Winzlinge hineinließ. Sie hatten kurzes schwarzes Haar und straffe, fiebernde asiatische Gesichter. Schnee schmolz von den Schultern der lackschwarzen Regenmäntelchen. Der Älteste war vielleicht acht. Er war eine Sie. In das kurz geschorene Haar über den Ohren waren Blitze rasiert, mit beiden Händen umklammerte das Mädchen einen Nagasaki-HiLite-Selbstlader. Sie schwärmten aus und durchkämmten die Farm, schrien und brabbelten mit klebrigen Stimmen und zogen die Stromkabel, sodass die Tanks auf Weckruf schalteten.
    »He!«, sagte Tig Vesicle.
    Sie hörten damit auf und wurden still. Die Älteste kreischte und gestikulierte auf sie ein. Sie blickten wachsam hin und her zwischen ihr und Vesicle, dann fuhren sie fort, zwischen den Kabinen herumzustöbern, fanden ein Brecheisen und fingen an, den Deckel von Tank sieben aufzuhebeln. Indessen kam das Mädchen zu Vesicle und baute sich vor ihm auf. Sie war vielleicht halb so groß wie er. Café électrique hatte die kleinen unregelmäßigen Zähne bereits faulen lassen. Sie war so voll gepumpt, dass ihr die Augen vor dem Kopf standen. Die Handgelenke zitterten unter dem Gewicht des Nagasaki; aber sie brachte es fertig die Mündung so weit anzuheben, dass der Zielpunkt irgendwo in der Gegend seines Zwerchfells tanzte; dann sagte sie etwas wie: »Kennsen nagivierzisch? Wng?«
    Es hörte sich an, als esse sie die Wörter beim Aussprechen. Vesicle stierte auf sie hinunter.
    »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich hab dich nicht verstanden.«
    Das schien sie über alle Maßen zu ärgern. »Vierzig!«, kreischte sie.
    Verzweifelt nach einem Ausweg suchend, fiel Vesicle etwas ein, das ihm der Chianese Twink einmal erzählt hatte. Es gehörte zu einer Anekdote aus der Zeit, da der Twink noch ein Leben geführt hatte, bla, bla, bla, woran sich angeblich alle erinnerten. Vesicle, gelangweilt von der Geschichte, aber fasziniert davon, wie viel Erfahrung man in einem einzigen Satz unterbringen konnte, hatte ihn munter auswendig gelernt. Er brauchte einen Moment, um sich die exakte Gebärde in Erinnerung zu rufen, mit der Chianese die Worte garniert hatte, dann blickte er auf das Mädchen hinunter und sagte: »Ich habe solche Angst, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder mir in die Hose machen soll.«
    Ihre Augen traten noch weiter aus dem Kopf. Er sah, wie sie am Abzug des HiLite zerrte. Er öffnete den Mund, fragte sich, was er sagen sollte, um die neuerliche Wut zu dämpfen, doch es war zu spät. Es gab eine gewaltige Detonation, die seltsamerweise von irgendwo neben der Ladentüre kam. Die Augen des Mädchens traten noch weiter aus ihren Höhlen, dann sprangen sie bis auf Sehnervlänge aus dem Kopf, der im selben Augenblick zu einer grauroten Maische verkochte. Vesicle taumelte zurück, ziemlich bekleckert von dem Zeug, fiel auf den Rücken und fragte sich, was, in Dreiteufelsnamen, eigentlich los war.
    Das war los:
    Draußen in der Pierpoint-Nacht standen die Einwegcultivare Schlange. Zehn oder zwölf von ihnen standen im Schneegestöber, stampften mit den Füßen und hielten den Finger am Abzug ihrer kurzen Rückstoßwaffen. Sie trugen Lederboleros und speckige Lederhosen, die außen längs einer drei Zoll breiten, beinlangen Lücke geschnürt waren. Ihr Atem kondensierte an der frostigen Luft wie der Atem großer anhänglicher Tiere. Selbst ihre Schatten hatten Fangzähne. Die gewaltigen Arme waren blau vor Kälte, doch ihre Eigner waren so rotzgeil, dass sie nichts drum gaben. »He«, sagte der eine zum anderen. »Du kannst mir glauben, am liebsten würd ich noch was ausziehen.« Das Einstiegsmuster sah so aus: Sie stürmten zu zweit durch die Tür des Twink-Salons und die Knirpse hinter den Särgen ballerten sie nieder.
    Gleich nachdem sie das HiLite-Mädchen getötet hatten, brach drinnen die Hölle los: die flachen zischenden Lichtbögen der Raketengeschosse, Rauch, das

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