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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Höhe einer Haut aus Schimmel glich. Sie stießen durch eine Wolkenschicht und brachen ins grelle Sonnenlicht hinaus. Anna schien die Ereignisse der vergangenen Nacht verdrängt zu haben. Einen Großteil der Flugzeit verbrachte sie damit, auf das Wolkenmeer hinabzustarren, ein leises, fast ironisches Lächeln um den Mund; obwohl, einmal fasste sie nach Kearneys Hand und flüsterte: »Hier oben gefällt’s mir.«
    Doch Kearney war mit den Gedanken ganz woanders.
    In seinem zweiten Jahr in Cambridge hatte er vormittags gearbeitet und nachmittags auf seinem Zimmer Karten geworfen.
    Er ließ sich immer durch den Narren vertreten.
    »Die treibende Kraft«, hatte Inge ihm erklärt, noch bevor sie jemanden fand, der sie richtig vögeln wollte, »ist der tief ausatmende Akt des Verlangens. Wie der Narr ständig von seiner Klippe weg ins Leere tritt, so sind wir Anwesenheiten, die die Abwesenheit füllen, die uns hervorgebracht hat.« Damals hatte er keine Ahnung gehabt, was sie damit meinte. Er hatte es für eine Art Tarot-Chinesisch gehalten, das sie sich angeeignet hatte, um die Sache interessanter zu machen. Doch er begann mit diesem Selbstbildnis im Kopf: sodass jede Reise im wahrsten Sinne des Wortes ein ›Trip‹ sein würde.
    Er musste den Narren aus dem Spiel entfernen, bevor er austeilen durfte. Am späten Nachmittag, als es im Zimmer dunkler wurde, legte er die Karte auf die Armlehne des Sessels, von wo sie zu ihm emporschimmerte, mehr Ereignis als Bild.
    Nach einfachen Regeln bestimmte der Kartenwurf das Ziel der Reise. Zum Beispiel: Wenn die aufgedeckte Karte ein Spazierstock war, würde Kearney nach Norden fahren, aber nur, wenn der Ausflug in der zweiten Jahreshälfte stattfinden sollte oder wenn die nächste aufgedeckte Karte ein Ritter war. Weitere Regeln, deren Klauseln und Gegenklauseln er bei jedem Wurf und Neuwurf der Karten intuitiv erfasste, deckten Süden, Westen und Osten ab; sowie den Bestimmungsort; und die Kleidung, die er tragen würde.
    Er warf niemals die Karten, wenn er bereits unterwegs war. Es gab zu viel, was ihn in Anspruch nahm. Wann immer er aufsah, hatte die Landschaft etwas Neues zu bieten.
    Stechginster stürzte sich vom Hang eines kleinen, steilen Hügels, auf dem eine Farm lag. Fabrikschornsteine ertranken im Gleißen der Sonne, sodass er sich geblendet abwenden musste. Vorne im Waggon wurde eine Zeitung geöffnet, was wie ein Regenschauer klang, der vom Wind gegen das Fenster gedrückt wird. In die Lücken zwischen den Ereignissen ergoss sich, so nahtlos wie goldener Sirup, seine Träumerei. Er fragte sich, wie wohl das Wetter in Leeds oder Newcastle sein mochte, wandte sich an den Independent und las: Global economy likely to remain subdued (* Weltwirtschaft wahrscheinlich weiterhin gedämpft.) Plötzlich gewahrte er die Armbanduhr der Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs. Eine Plastikuhr mit durchsichtigem Zifferblatt, sodass man das komplizierte Innenleben sah und vor lauter grünlichen, flimmernden Zahnrädchen die Position der Hände aus dem Auge verlor.
    Wonach suchte er? Er wusste nur, dass ihn die makellose gelbe Front eines Intercity in Erregung versetzte.
    Morgens arbeitete Kearney. Nachmittags warf er die Tarotkarten. An den Wochenenden fuhr er Zug. Manchmal traf er Inge in der Stadt. Er erzählte ihr von den Karten; in einer Art reumütiger Zuneigung berührte sie seinen Arm. Sie war freundlich wie immer, wenn auch ein wenig verstört. »Es macht einfach nur Spaß«, wiederholte sie jedes Mal. Kearney war neunzehn Jahre alt. Die Theoretische Physik öffnete sich ihm wie eine Blume und enthüllte ihm seine Zukunft. Doch Zukunft reichte ihm nicht. Indem er reiste, wie die Reisen fielen, so glaubte er damals, würde sich für ihn so etwas wie eine ›fünfte Richtung‹ auftun. Vielleicht würde sie ins richtige Stechginsterland fuhren; dahin, wo jene Träume seiner Kindheit aufgeführt wurden, in denen alles noch mit Zuversicht und Vorherbestimmung und Licht erfüllt gewesen war.
     
    »Michael!«
    Kearney starrte hierhin und dorthin, wusste nicht gleich, wo er war. Licht verändert alles: einen Plastikbecher voll Mineralwasser, die Haare auf deinem Handrücken, die Tragfläche einer Linienmaschine dreißigtausend Fuß über dem Atlantik. Alle diese Dinge können erlöst und eine Zeit lang vor allem sie selbst werden. Die Stewards und Stewardessen gingen schnellen Schrittes die Gänge auf und ab und räumten die ausgeklappten Tabletts leer. Kurz darauf wurden die

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