Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
du kannst, Hauptsache, sie können uns nicht sehen.«
    »Ein viertel Lichtjahr«, sagte die Mathematik. »Alarmstufe zwei.«
    »Okay«, sagte Seria Maú. »Er ist tatsächlich gut.«
    »Er ist schon da. Kilometerbereich.«
    Sie sagte: »Uns trennen fünfundneunzig Nanosekunden von der Katastrophe. Wo bleiben die Geschütze?«
    Die Hülle begann leise zu klingen. Draußen in der faden grauen Leere explodierte ein gewaltiges Fanal. In dem Bemühen, ihre Hardware-Peripherie zu schützen, setzte die White Cat ihre massive Feuerkraft für anderthalb Nanosekunden außer Betrieb. Bis dahin hatten die Geschütze bereits im langwelligeren Bereich gefeuert. Röntgenstrahlen ließen die Temperatur des lokalen Raums kurzzeitig auf 25.000 Kelvin steigen, während die übrigen Partikel ausnahmslos alle Sensoren blendeten und temporäre Teilräume aus der waffenfähigen Singularität zu fraktalen Dimensionen verdampften. Wie Engelschöre sangen Druckwellen durch das Dynaflow-Medium, so ähnlich mussten sich die ersten Gesänge im zähen Substrat des frühen Universums fortgepflanzt haben, noch ehe Proton und Elektron ihre innige Verbindung eingegangen waren. Im Schutz dieses Augenblicks – nicht so sehr der Anmut als des schieren Irrsinns und der Metaphysik in des Wortes buchstäblicher Bedeutung – schaltete Seria Maú die Treiber ab und ließ ihr Schiff in den Normalraum fallen. Zehn Lichtjahre abseits von Irgendwo kehrte die White Cat flackernd zur Existenz zurück. Sie war allein.
    »Siehst du«, sagte Seria Maú. »So gut war er doch nicht.«
    »Leider hat er den Stöpsel etwas früher gezogen als wir«, konstatierte die Mathematik. »Schwer zu sagen, ob er das nastische Schiff hat mitnehmen können.«
    »Ist er zu sehen?«
    »Nein.«
    »Bring uns in irgendein Versteck«, sagte Seria Maú.
    »Egal, wohin?«
    Seria Maú wälzte sich in ihrem Tank, sie war wie gerädert.
    »Fürs Erste, ja«, sagte sie.
    Achtern – falls das Wort in zehn räumlichen und vier zeitlichen Dimensionen auch nur die geringste Aussagekraft hat – verebbte noch immer die Explosion wie eine Art hartnäckiges Nachbild im Auge des personifizierten Vakuums. Die gesamte Kampfhandlung hatte sich in vierhundertfünfzig Nanosekunden abgespielt. Niemand im Quartier hatte etwas bemerkt, gleichwohl schienen die Menschen überrascht zu sein, dass Seria Maú so unvermittelt aufgehört hatte, mit ihnen zu schimpfen.
    In einem zweiten oder ergänzenden Teil ihres Traums befand Seria Maú sich wieder im Garten.
    Wochen nach dem Feuer war das Haus noch voll davon. Der Rauch war durch jede Ritze gedrungen, haftete allen Dingen an. Die ganzen alten Sachen, die der Vater verbrannt hatte, kamen in Gestalt ihres Rauchs zurück und legten sich auf die Regalbretter, die Möbel und Fensterbänke. Sie kehrten als Geruch zurück. Die beiden Kinder standen in ihren Mänteln und Schals am runden Aschefleck, der sich wie eine schwarze Lache ausnahm. Sie ließen ihre Zehen genau bis an den Rand kriechen und blickten auf sie hinunter. Sie sahen einander in einer Art feierlichem Staunen an, derweil der Vater im Haus hinter ihnen hin- und herlief. Wie hatte er das nur tun können? Wie hatte er nur einen so großen Fehler machen können? Sie fragten sich, was als Nächstes passieren würde.
    Das Mädchen wollte nicht essen. Es weigerte sich, irgendetwas zu sich zu nehmen. Der Vater sah mit ernster Miene auf sie herab. Er hielt ihre Hände, sodass sie ihm in die Augen blicken musste. Seine Augen waren von einem Braun, so hell, dass es an Orange grenzte. Solcherart Augen galten als etwas Besonderes. Sie waren ein einziger Appell.
    »Du musst jetzt die Mutter sein«, sagte er. »Kannst du uns helfen? Kannst du die Mutter sein?«
    Das Mädchen lief bis ans Ende des Gartens und weinte. Sie wollte niemandes Mutter sein. Sie wollte, dass jemand ihre Mutter war. Wenn dieses Ereignis zum Leben gehörte, dann mochte sie dieses Leben nicht. So einem Leben traute sie nicht. Es würde sich in Nichts auflösen. Sie lief auf und ab im Garten, die Arme ausgebreitet, und machte laute Geräusche, bis ihr Bruder lachte und mitmachte und der Vater herauskam und sie nötigte, in seine traurigen braunen Augen zu blicken und sie erneut fragte, ob sie die Mutter sein wolle. So stur wie sie konnte, blickte sie in eine andere Richtung. Sie wusste, was für einen großen Fehler er gemacht hatte: Wenn es schwer fällt, von einem Foto loszukommen, dann fällt es noch schwerer, von einem Geruch

Weitere Kostenlose Bücher