Licht
einen schaurigen, animalischen, wehklagenden Laut vernommen. Er stammte von Anna, die auf dem Beifahrersitz kniete, den Rücken zur Windschutzscheibe, und wahllos Seiten aus dem AAA-Straßenatlas riss, der zum Inventar des Mietwagen gehörte. Während sie jede einzelne zusammenknüllte und in den Fußraum warf, flüsterte sie immerzu: »Ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht, wo ich bin.« Der schäbige blaue Pontiac füllte sich derart mit Wut und Elend – denn Anna hatte sich zeitlebens nicht zurechtgefunden und würde sich auch diesmal nicht zurechtfinden –, dass Kearney gleich wieder einschlief. Das Letzte, was er sah, war ein Interstate-Schild gut vierhundert Meter voraus, das im Wechselbad der vorbeifahrenden Trucks zum Vexierspiel wurde. Dann war es heller Tag, und sie waren in Massachusetts.
Anna trieb in Mann Hill Beach südlich vor Boston ein Motelzimmer auf. Sie schien die nächtliche Verzweiflung überwunden zu haben. Sie stand im blassen Sonnenschein auf dem Parkplatz, blinzelte gegen die gleißende See und schüttelte die Zimmerschlüssel vor Kearneys Gesicht, bis er gähnte und hastig aus dem Fond kletterte.
»Komm, guck mal!«, lockte sie. »Ist doch hübsch, was meinst du?«
»Ein Motelzimmer«, räumte Kearney ein und musterte misstrauisch die Vorhänge aus Gingan-Imitat.
»Ein Bostoner Motelzimmer.«
In Mann Hill Beach blieben sie länger als in New York. Jeden Morgen gab es Küstennebel, doch er verlor sich frühzeitig und für den Rest des Tages lag alles wie ausgebleicht unter der klaren Wintersonne. Nachts konnte man jenseits der Bucht die Lichter von Provincetown sehen. Niemand kam ihnen zu nahe. Anfangs durchsuchte Kearney das Zimmer alle zwei Stunden und wollte nur schlafen, wenn die Lampe am Kopfbrett brannte. Schließlich wurde er gelassener. Anna machte unterdessen Strandspaziergänge und las mit zielloser Begeisterung auf, was das Meer so anschwemmte; oder sie fuhr mit dem Pontiac vorsichtig nach Boston, wo sie kleine Mahlzeiten in italienischen Restaurants zu sich nahm. »Du solltest mitkommen«, sagte sie. »Es ist wie Ferien. Es würde dir gut tun.« Dann, während sie sich im Spiegel besah: »Ich habe zugenommen, was meinst du? Bin ich zu fett?«
Kearney blieb auf dem Zimmer, der Fernseher lief und der Ton war heruntergedreht – etwas, das er sich von Brian Tate abgeguckt hatte. Oder er hörte einen lokalen Sender, der sich auf Musik aus den Achtzigern spezialisiert hatte. Das gefiel ihm besonders, weil er dann im Halbschlaf das Gefühl hatte, auf dem Weg der Besserung zu sein. Dann, eines Nachts, spielten sie den Tom-Waits-Song Downtown Train.
Er hatte den Song noch nie gemocht; aber beim ersten Akkord wurde er so voll und ganz in eine frühere Version seiner selbst zurückgeschleudert, dass ihn eine entsetzliche Verwirrung überkam. Er konnte nicht begreifen, wieso er so grausam gealtert war, und wie es kam, dass er mit jemandem in einem Motelzimmer war, den er nicht kannte, dem er erst noch begegnen musste, einer Frau, die älter war als er, die ihn, wenn er ihre dünnen Schultern berührte, von der Seite ansah und lächelte. Tränen traten ihm in die Augen. Es war nur eine ganz kurzlebige Bestürzung, aber diese Anmutung hatte etwas Raubtierhaftes. Kearney ahnte, dass er ihr von nun an ausgeliefert war – ausgeliefert, nur weil er sich auf sie eingelassen hatte. Von nun an würde sie ihm so unbarmherzig folgen wie es der Shrander tat. Sie würde immer und überall auf ihn lauern. In gewisser Hinsicht war diese Anmutung vielleicht der Shrander und würde ihn, Kearney, wenn er nichts unternahm, nach und nach verzehren. Am folgenden Morgen, als Anna noch schlief, stand er auf und fuhr mit dem Pontiac nach Boston.
Und kaufte sich eine Sony Handycam. Es dauerte eine Weile, bis er diesen weichen, mit Kunststoff ummantelten Draht gefunden hatte, den Gärtner benutzen; recht schnell dagegen fand er ein Küchenchefmesser aus Kohlenstoffstahl. Einem Impuls folgend ging er nach Beacon Hill, wo er zwei Flaschen Montrachet auftrieb. Auf dem Weg zum Wagen blieb er einen Augenblick an der Südseite des Charles River Basin stehen und blickte zum MIT hinüber, dann folgte er wieder einem Impuls und rief Brian Tate an. Niemand meldete sich. Wieder im Motel fand er Anna nackt und mit hochgezogenen Knien auf dem Bett sitzen und heulen. Es war zehn Uhr morgens und sie hatte bereits ihre Zettel an Türen und Wände geheftet. Warum machst du dir Sorgen?, sagten sie und: Tue
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