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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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niemals mehr, ab du kannst. Die Zettel waren wie Leuchtfeuer für den Freizeitkäpten, der sich selbst in vertrauten Gewässern verirrte. Der Parfumgeruch im Bad konnte den Geruch nach Erbrochenem nicht restlos verschleiern. Sie sah schon wieder dünner aus. Er legte ihr den Arm um die Schultern.
    »Kopf hoch«, sagte er.
    »Du hättest mir sagen können, dass du weggehst.«
    Kearney hielt die Sony hoch. »Na? Wie wär’s mit einem Spaziergang am Strand?«
    »Ich rede nicht mit dir.«
    Doch Anna liebte es, gefilmt zu werden. Den Rest des Tages, derweil die Seevögel über die Untiefen huschten oder wie Papierdrachen über dem Strand standen, lief sie, saß sie, wälzte sich, posierte aufs Meer hinausblickend vor dem weißen Sandstrand, der sich im klaren Küstenlicht erstreckte. »Lass sehen!«, verlangte sie. »Lass sehen!« Dann kreischendes Gelächter, als sich die Bilder wie ein Schwall von Juwelen über den kleinen Monitor ergossen. Sie wollte nicht warten, um sie sich auf dem Fernsehschirm anzusehen. Sie war so ungeduldig wie eine Vierzehnjährige – dass es ihr nicht vergönnt gewesen war vierzehn zu bleiben, war, wie sie sich zuweilen anmerken ließ, ihre ganz persönliche Tragödie.
    »Ich weiß etwas, das du nicht weißt«, sagte sie. Sie setzten sich für einen Moment auf eine Düne und sie erzählte ihm vom Mann Hill Sea Monster…
    November 1970: Dreitausend Pfund faulendes Fleisch sind auf den Sand von Massachusetts gespült worden. Den ganzen nächsten Tag sammeln sich Scharen von Menschen, kommen mit Autos und Motorrädern von Providence herauf und von Boston herunter. Eltern starren erschrocken auf die tranigen Flossen. Die Kleinen stürmen und flitzen drauf zu, bis sie sich richtig fürchten. Doch das Ding ist zu verwest, als dass man es noch identifizieren könnte; und obwohl das Knochengerüst dem eines Plesiosaurus ähnelt, verständigt man sich darauf, dass der Sturm nichts Exotischeres als die Überreste eines Riesenhais angeschwemmt hat. Am Ende gehen alle nach Hause, doch die Diskussionen halten dreißig Jahre lang an…
    »Wetten, dass du das nicht wusstest?«, sagte Anna, lehnte sich rücklings an Kearneys Brust und ermutigte ihn, sie in die Arme zu schließen. »Obwohl du gleich das Gegenteil behaupten wirst.« Sie gähnte und blickte über die Bucht hinaus, die inzwischen so dunkelte wie die feine Kruste auf einem Quecksilbertropfen. »Ich bin völlig erschöpft, aber so schön diesmal.«
    »Du solltest früh zu Bett gehen«, sagte er.
     
    An diesem Abend trank sie viel Wein, lachte viel und zog sich aus und schlief ganz plötzlich auf dem Bett ein. Kearney deckte sie zu, zog die Vorhänge aus Gingan-Imitat vor und verband die Handycam mit dem Fernseher. Er löschte das Licht und ließ teilnahmslos laufen, was er am Strand aufgenommen hatte. Er rieb sich die Augen. Anna schnarchte plötzlich, sagte etwas Undeutliches. Die letzten Meter, unterbelichtet und körnig, zeigten Anna in der Ecke des Zimmers. Sie wollte eben ihre Jeans aufknöpfen. Ihre Brüste waren schon entblößt und sie drehte den Kopf, als habe Kearney etwas zu ihr gesagt, Augen weit, Mund süß, aber müde vor Hinnahme, als wisse sie bereits, was auf sie zukam.
    Er fror dieses Bild ein, suchte sich eine Schere und schnitt zwei, drei armlange Stücke von dem Draht ab, den er am Morgen gekauft hatte. Er legte sie griffbereit auf den Nachttisch. Dann zog er sich aus, befreite das Küchenchefmesser aus der Plastikhülle, schlug die Bettdecke zurück und blickte auf sie hinunter. Sie lag zusammengerollt da, einen Arm locker um die Knie gelegt. Rücken und Schultern waren so mager und unmuskulös wie bei einem Kind, die Wirbelsäule ein gekrümmtes verwundbares Relief. Ihr Profil wirkte scharf, ausgehöhlt, als sei Schlaf keine Erholung von ihrem zentralen Problem, Anna zu sein. Kearney stand über ihr, durch die Zähne zischend, hauptsächlich aus Zorn über alles, was sie hierher verschlagen hatte, was ihn hierher verschlagen hatte. Er wollte es schon tun, als er sich entschied, die Würfel des Shranders zu werfen, nur um sicherzugehen.
    Sie musste das beinerne Kullern auf dem Nachttisch gehört haben, denn als er sich wieder umwandte, war sie wach und sah zu ihm auf, träge und mürrisch vor Schlaf, ihr Atem säuerlich vom Wein. Ihre Augen gewahrten das Messer, den Draht, Kearneys ungewohnte Erektion. Unfähig zu begreifen, was hier geschah, langte sie mit einer Hand hoch und versuchte ihn zu sich

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