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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Schatten des Shranders, der irgendwie aus dem Innern des Gebäudes auf eine dieser Trennwände projiziert wurde. Lebensgroß, anfangs ein bisschen unscharf und diffus, dann schärfer und deutlicher werdend und sich träge um die eigene Achse drehend wie eine Insektenpuppe, die in der Hecke hängt. Während sich der Schemen drehte, war ein Rascheln zu hören, wie Kearney es seit zwanzig Jahren nicht mehr vernommen hatte. Ein Geruch, den er nicht vergessen hatte. Sein ganzer Körper wurde kalt und steif vor Angst. Er machte ein paar Schritte rückwärts, dann warf er sich herum und rannte ins Büro zurück, packte Meadows bei den Jackettaufschlägen, zerrte ihn über den Glasschreibtisch und schlug ihm ein paarmal rasch hintereinander auf den rechten Backenknochen.
    »Christus«, sagte Meadows mit belegter Stimme. »Ah.«
    Kearney zerrte ihn ganz über das Möbel und schleifte ihn über den Boden zur Tür hinaus. Zur selben Zeit kam der Lift an und Sprake stieg aus.
    »Ich hab ihn gesehen, ich hab ihn gesehen«, sagte Kearney.
    Sprake entblößte die Zähne. »Hier ist er aber nicht.«
    »Nun beweg dich, verdammt noch mal. So nah war er mir noch nie. Er will, dass ich irgendwas mache.«
    Gemeinsam schafften sie Meadows in den Lift und drei Stockwerke nach unten. Er schien aufzuwachen, als sie ihn durchs Foyer und nach draußen ans Kanalufer schleiften. »Michael?«, sagte er immer wieder. »Bist du das? Stimmt was nicht mit mir?« Kearney ließ ihn los und fing an auf seinen Kopf einzutreten. Sprake schob sich dazwischen und hielt Kearney zurück, bis er sich beruhigt hatte. Sie schleiften Meadows ans Wasser und ließen ihn mit dem Gesicht nach unten hineinfallen. Während sie ihm die Beine festhielten, machte Meadows einen hohlen Rücken, um den Kopf über Wasser zu halten, gab dann aber mit einem Stöhnen auf. Blasen stiegen auf. Der Darm entleerte sich.
    »Christus«, sagte Kearney und taumelte beiseite. »Ist er tot?«
    Sprake grinste. »Ich würde sagen, ja.« Er legte den Kopf in den Nacken, bis er geradewegs in die kraftlosen Sterne über Walthamstow blickte, hob die Arme bis in Schulterhöhe und tanzte langsam den Treidelpfad nach Edmonton hinunter.
    »Urizen!«, rief er.
    »Scheiß drauf«, sagte Kearney. Er lief in die entgegengesetzte Richtung den ganzen Weg bis nach Lea Bridge, dann nahm er sich ein Minitaxi nach Grove Park.
     
    Jeder Mord erinnerte ihn an das Haus des Shranders, das er in gewisser Hinsicht nie verlassen hatte. Sein Sündenfall hatte dort begonnen, sein zutiefst sündiges Wissen hielt ihn dort gefangen. Ja, seine Verfolgung durch den Shrander in den Jahren darauf war dieses Wissen: Sie war der permanente Sturz in das Wissen um sein Stürzen. Wenn er tötete, besonders wenn er Frauen tötete, fühlte er sich erlöst von dem, was er wusste. Ihm war für einen Moment, als sei er wieder entkommen.
    Nackte graue staubige Dielen, Netzvorhänge, kaltes graues Licht. Ein langweiliges Haus in einer langweiligen Straße. Der Shrander, intakt, unanfechtbar, unermüdlich, stand oben in seinem Zimmer und starrte herrisch aus dem Fenster, wie der Käpten eines Schiffs. Kearney lief vor ihm weg, denn mehr als alles andere fürchtete er den Mantel des Shranders. Fürchtete er den Geruch nach nasser Wolle. Dieser Geruch sollte seine letzte unschuldige Empfindung bleiben.
    Der Schnabel öffnete sich. Worte wurden gesprochen. Panik – es war die seine – füllte das Zimmer wie eine klare Flüssigkeit, wie Eiweiß oder Fischleim, so dickflüssig, dass er gezwungen war, kehrtzumachen und durch die offene Tür zu schwimmen. Seine Arme bewegten sich wie beim Brustschwimmen, derweil die Beine unter ihm laufen wollten, es aber nur zu nutzlosen Schritten in Zeitlupe brachten. Er stolperte auf den Treppenabsatz hinaus, strauchelte die Treppe hinunter und – voller Entsetzen und Ekstase, die Würfel in der Hand – auf die regennasse Straße hinaus. Er musste jemanden töten. Er wusste, er würde erst gerettet sein, wenn er es tat. Eine Art seitlicher Gravitation kam ihm zustatten: Er stürzte den ganzen Weg vom Haus des Shranders bis zum Bahnhof. Wegfahren, hoffte er, würde sein wie Wegstürzen vom Stürzen, und zwar in einem Winkel, der erträglicher und barmherziger war.
    Es war ein später, nasser Winternachmittag. Die Züge schienen nur widerwillig zu fahren, sie waren überheizt und leer. Alles war träge, träge, träge. Er nahm einen Nahverkehrszug, der sich aus London hinaus und in Buckinghamshire

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