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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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(Manche Farben, besonders Blau und Rot, wirkten bei jeder Beleuchtung zu hell. Andere zu düster.) Die Symbole waren nicht zu entziffern. Er hielt sie für Elemente eines piktografischen Alphabets. Dann für Elemente eines Zahlensystems. Dann glaubte er, sie hätten sich von Zeit zu Zeit zwischen zwei Würfen geändert, als beeinflusse das Resultat eines Wurfes das System an sich. Bald wusste er nicht mehr, was er denken sollte. Aber er hatte den Symbolen Namen gegeben: Voortman-Kombination, Ausgelassener Drache, Großes Hirschgeweih. Er hatte keinen Schimmer, welcher Teil seines Unterbewusstseins diese Namen abgesondert hatte. Alle verursachten ihm Unbehagen, doch bei den Worten Großes Hirschgeweih bekam er eine Gänsehaut. Es gab ein Symbol, das wie eine Küchenmaschine aussah. Ein anderes sah wie ein Schiff aus, ein altes Schiff. Blickte man so, war es ein altes Schiff. Blickte man anders, erinnerte es an gar nichts. Anblicken war also keine Lösung: Woher sollte man wissen, wann man richtig blickte? Im Laufe der Jahre hatte Kearney in den Symbolen Pi gesehen. Er hatte die Planck’sche Konstante gesehen. Er hatte ein Modell der Fibonacci-Reihe gesehen. Er glaubte, einen Code für die Anordnung von Sauerstoffverbindungen in den einfachen Proteinmolekülen der autokatalytischen Gruppe gesehen zu haben.
    Jedes Mal wenn er die Würfel aufhob, wusste er so wenig wie beim ersten Mal. Jeden Tag begann er von vorne.
    Er saß in Anna Kearneys Schlafzimmer und würfelte.
    Woher sollte man wissen, wie man blicken musste?
    Mit einem Frösteln sah er, dass er das Hirschgeweih gewürfelt hatte. Er kippte es rasch um und schaufelte die Würfel in den Lederbeutel zurück. Ohne sie, ohne die Regeln, die er sich ausgedacht hatte, um ihre Kombinationen zu beherrschen, ohne irgendetwas war er nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Er legte sich neben Anna, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihr zu, wie sie schlief. Sie sah ausgehöhlt aus aber friedlich, wie jemand, der sehr alt war. Er flüsterte ihren Namen. Sie wurde nicht wach, murmelte aber und bewegte die Beine ein wenig auseinander. Sie sonderte eine greifbare Wärme ab.
    Zwei Nächte zuvor hatte er ihr Tagebuch gefunden und darin diese Passage gelesen:
     
    Ich sehe mir das Video aus Amerika an, das Michael von mir gemacht hat, und ich kann diese Frau schon nicht mehr ausstehen. Hier starrt sie vom Monster Beach auf die Bucht hinaus, beschattet die Augen mit der Hand. Hier zieht sie sich aus, betrunken; oder liest Treibholz auf, lächelt und lächelt. Sie tanzt im Sand. Jetzt sieht man sie vor einem leeren Kamin rücklings auf den Ellbogen liegen, in hellbunter Hose und weichem Wollpullover. Die Kamera wandert über ihren Körper. Sie lacht dem Liebhaber hinter der Kamera zu. Sie hat die Knie angezogen, leicht geöffnet. Ihr Körper wirkt entspannt aber überhaupt nicht sinnlich. Deshalb wird ihr Liebhaber enttäuscht sein: mehr noch, weil sie so gut aussieht. Ob es an diesem Zimmer liegt? Dieser Kamin hintergeht sie, er liefert einen zu deutlichen Rahmen, er kippt sie ins Hochrelief Ihre Energie wird aus dem Bildbereich hinausprojiziert. Sie sucht Blickkontakt. Es ist eine Katastrophe. Er ist an ein schmaleres Gesicht gewöhnt, an hohle Wangen, an eine Körpersprache, die sich abwechselnd der Grammatiken von Kummer und Sex bedient. Weder selbstverloren noch zitternd vor Entbehrung ist sie nicht mehr die Frau, die er kennt. Er ist größeren Hunger gewöhnt.
    Zu jemandem, der so glücklich ist, fühlt er sich nicht hingezogen.
     
    Kearney wandte sich von der schlafenden Frau ab. Hatte sie Recht mit dem, was sie da schrieb? Er dachte darüber nach, was er diesen Nachmittag auf Tates Flachbildschirm gesehen hatte. Er musste unbedingt wieder mit Sprake reden; darüber fiel er in Schlaf.
     
    Als er aufwachte, kniete Anna über ihm.
    »Erinnerst du dich noch an meinen russischen Hut?«, sagte sie.
    »Was?«
    Kearney starrte schlaftrunken zu ihr auf. Er sah auf die Uhr. Zehn Uhr morgens und die Vorhänge waren aufgezogen. Das Fenster stand offen. Das Zimmer war lichtdurchflutet, Geräusche von Leuten, von Verkehr. Anna hielt einen Arm auf dem Rücken und stützte sich vornüber auf den anderen. Der Ausschnitt des weißen Baumwollnachthemds hing so, dass er ihre Brüste sehen konnte, die zu berühren sie ihn aus einem unerfindlichen Grund nie ermutigt hatte. Sie roch nach Seife und Zahnpasta.
    »Wir wollten ins Kino nach Fulham, es war ein Film von Tarkowski, ich

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