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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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hineinschleppte. Jedes Mal, wenn er einen Blick auf die Würfel in seiner Hand warf, schlingerte die Welt, und er musste weggucken. Er saß da und schwitzte, als zwei oder drei Haltestellen nach Harrow-on-the-Hill eine gebräunte, aber müde aussehende Frau in sein Abteil stieg. Sie trug einen schwarzen Straßenanzug. In der einen Hand trug sie eine Aktentasche, in der anderen eine Plastiktragetasche von Mark & Spencer. Sie machte viel Aufhebens mit ihrem Handy, blätterte durch ein Selbsthilfe-Buch, das allem Anschein nach Why Shouldn’t I Have the Things I Want? hieß. Zwei Stationen weiter nördlich verlangsamte der Zug seine Fahrt und hielt. Sie stand auf und wartete, dass sich die Tür öffnete, starrte auf den dämmrigen Bahnsteig mit dem erleuchteten Fahrkartenschalter dahinter. Sie klopfte mit dem Fuß. Sie schaute auf die Uhr. Ihr Mann würde auf sie warten, im Saab auf dem Parkplatz, und sie würden schnurstracks zur Gymnastik fahren. Zugauf, zugab gingen die Türen auf und zu, Leute eilten davon. Sie sah nervös nach rechts und links. Sie sah Kearney an. In der überheizten Leere des Abteils zog sich ihre Fahrt wie Kaugummi in die Länge, dann riss er ab.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Man will mich wohl nicht rauslassen.«
    Sie lachte.
    Kearney lachte auch.
    »Mal sehen, was wir tun können«, sagte er.
    Fünf oder sechs Goldkettchen, jedes mit einem Anhänger, der entweder ihre Initialen oder ihren Vornamen trug, schmiegten sich um die markanten Sehnen ihres Halses. »Mal sehen, was wir tun können, Sophie.« Als er hinunterlangte, um mit der Fingerspitze das Make-up zu berühren, das sich im zarten blonden Flaum ihres Mundwinkels verfangen hatte, fuhr der Zug langsam an. Als sie fiel, lagen ihre Einkäufe bereits am Boden verschüttet. Etwas – vermutlich ein eingeschweißter Kopfsalat – rollte aus der Tragetasche und durch das ganze Abteil. Der Bahnsteig fiel zurück und machte dem Dunkel der Nacht Platz. Die Tür des Abteils hatte sich nie geöffnet.
     
    Kearney, der jeden Moment damit rechnete, dass die Polizei bei ihm auftauchte, lebte von einer Nachrichtensendung zur nächsten: Doch nie wurde Meadows erwähnt. Die obere Hälfte einer Leiche, die man in der Nähe von Hungerford Bridge aus der Themse gefischt hatte, erwies sich als weiblich und bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. In Peckham wurde wieder ein nigerianischer Junge tot aufgefunden. Sonst keine besonderen Vorkommnisse. Kearney betrachtete den Bildschirm mit wachsendem Unglauben. Er konnte nicht begreifen, wieso er jedes Mal davonkam. Einen Risikokapitalgeber kann niemand besonders gut leiden, grübelte er eines Nachts, aber das ist einfach lächerlich.
    »Und nun«, sagte die Moderatorin strahlend, »zum Sport.«
    Er musste feststellen, dass er mehr Angst vor dem Shrander hatte als davor, entdeckt zu werden. Reichte Meadows, um den Shrander in Schach zu halten? Er wurde hin und her gerissen zwischen Optimismus und Pessimismus. Ein Geräusch auf der Straße reichte aus, um seinen Puls jählings aufzuscheuchen. Er ignorierte das Telefon, das nicht selten zwei- oder dreimal am Morgen klingelte. Die Anrufe wurden von der Mailbox aufgezeichnet, aber er traute sich nicht, sie abzuhören. Stattdessen würfelte er wie besessen und sah zu, wie die Würfel am Boden Reißaus nahmen, kleine hüpfende Artefakte aus menschlichem Gebein. Er konnte nichts essen, und beim kleinsten Temperaturanstieg brach ihm der Schweiß aus. Er konnte nicht schlafen, und wenn doch, dann träumte er, sich selbst umgebracht zu haben. Wachte er aus diesem Traum auf – in einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Beklemmung, die sich genauso wie Kummer anfühlte –, dann war es wegen Anna, die weinend und heftig flüsternd auf ihm lag: »Es ist ja gut. Oh, bitte. Es ist ja gut.«
    Linkisch und ungeübt hielt sie ihn mit Armen und Beinen umklammert, als gelte es, seine Schreie zu ersticken. Der Versuch jemanden zu trösten, sah ihr gar nicht ähnlich. Weshalb Kearney sich beinah entsetzt von ihr befreite, um sich gleich wieder in den Traum zu stürzen.
    »Ich verstehe dich nicht«, beklagte sie sich am nächsten Morgen. »Vor ein paar Tagen warst du noch so nett zu mir.«
    Kearney starrte wachsam in den Spiegel im Bad, aber etwas Außergewöhnliches konnte er dort nicht sehen. Er hatte Säcke unter den Augen und Falten im Gesicht. Hinter sich sah er durch den Dampf hindurch Anna, die ein Bad nahm, das nach Rosenöl und Honig duftete. Ihre Haut war durch die

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