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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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verschnaufen, hatte er das Aquarium vom Kopf gestemmt. Draußen über dem Strand krächzten und kreisten die Seevögel. Grellviolettes Licht fiel durch die Schlitze der Jalousien und machte aus Sandra Shens smaragdgrünem Cheongsam das gestreifte Fell eines Dschungelräubers. Sie pflückte sich einen Tabakkrümel von der Unterlippe. Schüttelte den Kopf.
    »Das ist auch mein Pech«, gab sie zu. »Auch meins.«
    Wenn Ed erwartet hatte, von ihr Näheres über das Procedere zu erfahren, hatte er sich getäuscht. Es schien sie nicht minder zu verwirren.
    »Ich will wissen«, sagte er, »wo ich meinen Kopf reinstecke.«
    »Vergiss das Aquarium, Ed«, sagte sie. »Da ist nichts drin. Ich möchte, dass du das endlich mal kapierst: Gar nichts ist da drin.« Als sie merkte, wie wenig ihn das beruhigte, schien sie nicht mehr weiter zu wissen. Einmal, da sagte sie: »Denke immer daran, beim Hellsehen stößt man unweigerlich auf sein Herz.« Schließlich empfahl sie ihm: »Du musst dich da kopfüber reinstürzen. Es ist ein voll und ganz darwinistisches Milieu. Du musst fix sein, um Beute zu machen.«
    Ed zuckte die Achseln.
    »Das beschreibt aber nicht, was ich erlebe«, sagte er.
    Er hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihm geschah, wenn sein Kopf im Aquarium war, aber es war weder stressig noch kämpferisch. Vermutlich brach hier ihr Temperament durch. Ihre Beschreibung verriet mehr über sie als über Wahrsagerei. »Egal«, sagte er, »mit der Orientierung hatte ich immer Probleme. Mit der Schnelligkeit nie.«
    Aus einem unerfindlichen Grund fügte er hinzu: »Neulich hab ich wieder schlecht geträumt.«
    »Das Leben ist eins der schwersten, Ed.«
    »Danke vielmals.«
    Sandra Shen grinste ihn an. »Rede mit Annie«, riet sie ihm. Ein paar weiße Stäubchen schienen aus ihren Augen zu fliehen. Unsicher, ob Letzteres schlechte oder gute Laune bedeutete, riss er sich von ihrem Anblick los und steckte den Kopf wieder ins Aquarium. Nach zwei, drei Herzschlägen hörte er sie sagen: »Ich habe es satt, den Leuten Vergangenheit zu verkaufen, Ed. Ich möchte in die Zukunft einsteigen.«
    »Sage ich irgendwas, wenn ich hier drin bin?«
     
    Je länger er mit dem Aquarium arbeitete, desto schlimmer wurden seine Träume.
    Raum, aber nicht leer. Eine unvollständige Finsternis, um sich selbst gewickelt wie die Bugwelle einer Alcubiere-Verwerfung, aber schlimmer noch. Das kalte Wasser eines bedeutungslosen, nicht salzigen Meeres, der Informationsäther, Substrat eines universellen Algorithmus. Lichter, die zersplitterten und sich in Schwärmen davonschlängelten. Das war der Job, den Sandra Shen ihm gegeben hatte: Hellsehen oder Dunkelsehen, solange sich nichts offenbarte; eine Reise ohne Ende, dann urplötzlich eine Pause, in der er die Dinge aus der Vogelperspektive sah.
    Details einer Landschaft, doch vor allem ein Haus. Eine feuchte Gegend, ein ziemlich alter Bahnhof, Hecken, ein leicht hochgekipptes Feld, dann dieses Haus, streng, viereckig, aus Stein. Es war, als hätten sich diese Dinge eben erst zusammengefunden. Dass sie in einem gewissen Sinne real waren – oder gewesen waren –, daran hatte er keinen Zweifel. Immer näherte er sich dem Haus von schräg oben, als komme er mit dem Flugzeug: ein hohes Haus, gedeckt mit lilagrauem Schiefer, flämische Giebel, ausgedehnter düsterer Garten, in dem Lorbeerbäume und Rasen immer unbeschadet über den Winter kamen. Nicht weit davon wuchsen weiße Birken. Es regnete nicht selten oder war neblig. Der Morgen graute. Dann war es später Nachmittag. Augenblicke später betrat Ed das Haus und an dieser Stelle wurde er sozusagen vom Kielwasser seines eigenen Verzweiflungsschreis geweckt.
    »Psch«, machte Annie Glyph. »Psch, Ed.«
    »Ich erinnere mich an Sachen, die ich nie gesehen habe«, schrie Ed.
    Er klammerte sich an sie, lauschte ihrem Herzen, das höchstens dreißigmal pro Minute schlug. Es war immer da, wenn es galt, ihn zu zähmen, dieses riesige, verlässliche Herz, ihn aus der stehenden Welle seiner Panik zu befreien. Unglücklicherweise besänftigte es ihn derart, dass er beinah augenblicklich wieder einschlief, um eines Nachts dann weiterzuträumen und genau dort zu sein, wo er um keinen Preis sein wollte: in diesem Haus. Er sah die Treppe. Lauerte seiner Schwester im Flur auf. »Waraaa!«, schrie er, und sie ließ das Tablett mit dem Lunch fallen. Beide stierten sie sprachlos auf das Malheur am Boden. Ein gekochtes Ei rollte in eine Ecke hinein. Jede Hilfe kam zu

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