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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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voraussage«, sagte er verzweifelt, »wieso sehe ich dann immer die Vergangenheit?«

 
22
     
Hartnäckige Entitäten
     
    Die Nacht war nass und windig. Wer die Restaurants und Kinos verließ oder aufsuchte, tat es mit eingezogenem Kopf und eiligen Schrittes. Die Züge fuhren noch. Michael Kearney öffnete den Reißverschluss der Jacke und zückte sein Handy. Ohne den Schritt zu verlangsamen, versuchte er Brian Tate zu erreichen, erst privat, dann über die Sony-Geschäftsstelle in Noho. Niemand meldete sich, wenn man von der Aufzeichnung bei Sony absah, die ihn in das Labyrinth automatischer Firmenauskünfte locken wollte. Er steckte das Handy wieder weg. Anna holte ihn zweimal ein. Zuerst in Hammersmith, wo er sich ein Ticket kaufen musste.
    »Du kannst mir nachlaufen, so lange du willst«, erklärte ihr Kearney. »Es ist zwecklos.«
    Sie sah ihn erhitzt und hartnäckig an, dann drängte sie sich durch die Schranke zu dem Bahnsteig durch, wo die Züge nach Osten hielten, und stellte ihn – eine defekte Neonbeleuchtung ließ ihre obere Gesichtshälfte grell flackern – zur Rede: »Wozu war dein Leben gut? Mal ehrlich, Michael: Wozu ist es gut gewesen?«
    Kearney packte sie bei den Schultern, wie um sie zu schütteln; sah sie aber nur an. Wollte etwas Hässliches sagen; ließ es bleiben.
    »Du machst dich lächerlich. Geh nach Hause.«
    Sie kniff die Lippen zusammen.
    »Siehst du?«, sagte sie dann. »Du weißt nicht, was du sagen sollst. Du weißt keine Antwort.«
    »Geh jetzt nach Hause. Ich komm schon zurecht.«
    »Das sagst du immer. Ist doch so? Und sieh dich an. Sieh nur, wie verängstigt und verstört du bist.«
    Kearney zuckte die Achseln.
    »Ich habe keine Angst«, sagte er und ging weiter.
    Ihr ungläubiges Lachen folgte ihm den Bahnsteig hinunter. Als sie einstiegen, blieb sie in dem überfüllten Wagen so weit wie möglich zurück. Im nächtlichen Gewühl am Victoria verlor er sie kurz aus den Augen, doch sie entdeckte ihn wieder und kämpfte sich grimmig durch einen Trupp lachender japanischer Teenager. Er biss die Zähne zusammen, stieg zwei Haltestellen früher aus und ging so schnell er konnte ungefähr eine Meile zu Fuß, hinein ins helle und quirlige West Croydon und hinaus in die Vorstadtstraßen. Immer wenn er zurückblickte, war sie etwas weiter zurückgefallen: Aber irgendwie blieb sie immer in Sichtweite, und bis er an Brian Tates Tür klopfte, hatte sie ihn zum zweiten Mal eingeholt. Das Haar klebte am Kopf, das Gesicht war gerötet, ihre Miene aufgebracht, doch sie blinzelte den Regen aus den Augen und bedachte ihn mit ihrem strahlenden, herbeigezwungenen Lächeln, als wolle sie sagen: »Siehst du?«
    Kearney pochte wieder an die Tür, und da standen sie nun in einer wütenden Waffenruhe mit ihrem Gepäck in den Händen und warteten, dass etwas passierte. Kearney kam sich wie ein Narr vor.
     
    Das Haus von Brian Tate lag an einer stillen, hügeligen und von Bäumen gesäumten Straße mit einer Kirche an dem einen und einem Seniorenheim am anderen Ende. Es hatte stattliche vier Etagen, eine kurze Kiesauffahrt zwischen Lorbeerbäumen, halb Kieselputz halb holzverschalt im Tudorstil. An Sommerabenden konnte man beobachten, wie im Garten dahinter zwischen den mit Flechten überwachsenen Apfelbäumen Füchse herumschnupperten. Das Haus machte den Eindruck, als sei es zeitlebens schonend und reichlich benutzt worden. Hier waren Kinder aufgewachsen und auf die Schulen geschickt worden, die zu Kindern aus solchen Häusern passten, und diese Kinder hatten Karriere gemacht als Makler, um dann selbst Kinder in die Welt zu setzen. Es war ein bescheidenes, erfolgreiches Haus, doch jetzt haftete ihm etwas Düsteres an, als sei ihm Brian Tate nicht bekommen.
    Als niemand auf das Klopfen reagierte, setzte Anna Kearney ihre Reisetasche ab und stellte sich in einem Blumenbeet auf die Zehenspitzen, um durch ein Fenster zu blicken.
    »Da drinnen ist jemand«, sagte sie. »Hör mal.«
    Kearney lauschte, doch er konnte nichts ausmachen. Er ging um das Haus herum und lauschte noch einmal, doch alle Fenster waren dunkel und nichts rührte sich. Der Garten flüsterte im Regen.
    »Er ist nicht zu Hause.«
    Anna fror. »Drinnen ist jemand«, wiederholte sie. »Ich habe gesehen, wie er hergeblickt hat.«
    Kearney klopfte an die Scheibe.
    »Siehst du?«, rief Anna aufgeregt. »Er hat sich bewegt.«
    Kearney zückte sein Handy und wählte Tates Nummer. »Klopf noch einmal an die Tür«, sagte er und nahm das Handy

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