Licht
Vorstellung, die mich bedrückt. Was ist mit ihr geschehn, daß sie in eine Affaire gerät? Ich weiß, daß sie liebt, sie verausgabt sich nicht in seelischer Ungenauigkeit und sie läßt sich nicht lieben, sie läßt sich nicht einfach lieben. Eine Affaire hat sie nie gebraucht. Ich erwarte von Dole, daß sie liebt. Unbedingt liebt sie selbst, zu Halbheiten ist sie nicht fähig. Was ich von ihr weiß, überzeugt mich davon, daß sie wirklich und bedingungslos liebt.
Es kann ihr nicht gutgehn.
Sie ist heute nachmittag nach Brüssel gefahren. Ich habe sie zum nächsten Bahnhof gebracht (Kleinstadtbahnhof mit Musikpavillon auf dem Vorplatz, Papierkörbe und Blumenrabatten, so sieht das hier überall im Hinterland aus). Im Wartesaal eine Fotokabine, sie blieb davor stehn und wollte nicht weiter. Wollen wir uns fotografieren lassen? Laß uns ein paar verrückte Bilder machen! Als ich klein war, ließ ich mich dauernd fotografieren, ich war besessen davon, mich auf Bildern zu sehn. Wenn ich zwei Mark hatte, lief ich zum Bahnhof und kroch in den Apparat, das war eine kleine graue Kabine auf Gummifüßen, mit drehbarem Stuhl und schwarzem Vorhang.
Dafür schminkte ich mich zum erstenmal, es war ein Geheimnis. Aber das Fotografieren ging furchtbar schnell, ich verpaßte meinen besten Ausdruck, immer wieder verpaßte ich meinen Ausdruck. Wenn das Blitzlicht kam, war ich nicht vorbereitet, sah immer falsch aus, verträumt oder hilflos. Ich hatte ein schönes Lächeln eingeübt, romantisch-verächtlich, mit dicken Schlafzimmeraugen, mit solchen Augen kam ich mir wirklicher vor. Ich versteckte die Fotos in meinem Geldbeutel und sah sie an, wenn ich allein war, nachts im Bett oder auf der Toilette. Nach ein paar Tagen warf ich sie weg und ging wieder zum Bahnhof. Keine Ahnung, warum ich mich so oft fotografieren ließ. Ich kam mir ungeliebt vor, trotz vieler Freunde, und meine Zähne waren viel zu groß. Jetzt ist es umgekehrt und wieder nicht richtig: ich sehe auf Fotos schöner aus als ich bin.
Wir zwängten uns in die Kabine und hielten viermal still. Der Kasten vibrierte mit Dieselgeräusch und spuckte einen feuchten Bildstreifen aus. Wir sahen uns viermal ähnlich trotz zweifelnder Blicke, Dole steckte alle Bilder ein. Dann war keine Zeit mehr. Überstürztes Lebwohl vor dem haltenden Zug. Angedeutete Zärtlichkeit. Der fiebrige Glanz in ihren Augen, der winkende Handschuh. Ich wollte nicht in den Bungalow zurück. Stundenlang unterwegs auf leeren Chausseen. Schnelles Fahren in der Dämmerung. Aufatmen in der Dunkelheit, allein.
Wir gingen auf die Friedhöfe der Dörfer, Efeugelände hinter Kirchenmauern, wo Platten und Steine zerbrochen im Unkraut lagen oder, von Wurzeln gehoben, vorm Umkippen standen. Wir entzifferten in Blech gestanzte, in Stein gehauene und mit Moos überwachsene Namen von Toten; Maisbauern, Tagelöhner und Briefträger, die vor achtzig Jahren in hohem Alter gestorben waren. Johann Zechbiegler unvergessen, Friedrich Delani, Anton Winterbier. Wir entdeckten Fotografien hinter Glas, retuschierte Offiziere in blindem Oval, Casanovabärte aus altem Weinadel und die Gräber der Witwen unter Rosen aus Glas. Hinter der Friedhofsmauer sind Gießkannen versteckt, sagte Dole, brauchen wir eine Gießkanne? Darf ich dir einen durchlöcherten Eimer schenken? Wir sahen die Bauerngärten am Rand der Dörfer, Astern und Kürbisse in grüner Wildnis, Malven im Regen und schwarze Sonnenblumen. Brennesseln wucherten um die Lattenzäune. Im Krieg macht man Brennesseln zu Spinat, sagte Dole, jetzt läßt man sie stehn oder sichelt sie weg, ich liebe Brennesseln, weil sie wertlos sind, je suis de la mauvaise herbe, mich langweilen Rosen. Man kann Brennesseln anfassen, ohne daß es schmerzt – weißt du wie? Sie packte ein Blatt mit zwei Fingern und riß es ab. Ganz einfach, du mußt fest anfassen und darfst keine Angst haben. Wenn du Angst hast, wirst du von der Brennessel gebissen und bekommst diese kleinen juckenden Blasen. Das habe ich von meinem Vater gelernt: man faßt eine Brennessel an wie eine Geliebte, leicht, fest, sicher und ohne Angst. Hast du mich angefaßt, auf diese Weise? Wir standen umarmt auf der Straße und faßten uns an. Es war herrlich, nebeneinander durch die Obstgärten zu gehn und den Atem des andern zu hören, die gemeinsamen Schritte. Und es war notwendig, auf dem Land zu sein, seit die Luft in den Städten schlechter wurde und Dole immer häufiger Kopfschmerzen bekam. Wir hatten Tage und
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