Licht
dein Atem sich in der Kälte auflöst? Der Atem kommt weiß aus dem Mund und verschwindet farblos. Er löst sich nach allen Seiten auf, er zerfranst, er verpufft, nein er löst sich auf. Nein er schmilzt weg, er reißt auseinander. Der Atem löste sich auf, und fertig. (Dasselbe beim Beobachten der Dämmerung. Du siehst, daß es hell, dann daß es fast dunkel ist. Vom Dunkelwerden hast du nichts bemerkt. Erklär mir das Dunkelwerden, sagte Dole.)
Schneeflocken in der Luft und vereiste Seen. Wir liefen auf das beschneite Eis zu den Anglern, die in Wattejacken vor ihren Löchern rauchten, Aktentaschen und Eimer neben sich. In der Kälte spannte das Gesicht, die Hände wurden taub und die Lippen hart – sie werden wieder weich, wenn du mich küßt. Es war ein Genuß, durch Rauhreiftage zu gehn, unter glasigfunkelnden Telegrafendrähten, im himmeloffenen, ungewaschenen Weiß, das von keiner Reklame entdeckt worden war. Der Winterabend begann am Nachmittag. Die Angler trugen volle Eimer nach Hause. Der Schnee wurde blau, jeder Baum ein Vogelhaus, Geflatter in Krähenbäumen, schläfriges Krächzen, Uferbäume und Bootshäuser dunkel. Glattgerodelte Wege im Zwielicht. Wir balancierten in eine Ortschaft, an hochgeschaufeltem Schnee vorbei in das nächste Gasthaus. In der Gaststube war es so heiß, daß die Brille beschlug und die Finger schmerzten. Es roch nach Schinkenomelett, Zigarren und Wein. Der Bauernstammtisch redete Dialekt, viel Hobelspäne im Maul und Bauchrednerei, ich kann das bloß verstehn, wenn aus der Zeitung zitiert wird. Kannst du dir vorstellen, ein Leben lang im gleichen Haus zu wohnen, mit denselben Leuten, an einem Ort? Vielleicht beneidenswert, vielleicht ein Alptraum? Ob man das Gefühl für die Zeit verliert, wenn man gleichbleibend lebt, ohne Aufbruch und Abschied? Alles Endgültige ist zum Verzweifeln traurig, ich möchte nicht ohne Aufbruch und Abschied leben. Es war beneidenswert, Hunger zu haben und auf ein Essen zu warten, das man bezahlen konnte, Kartoffeln und Pfifferlinge in Butter gebraten, oder Brot mit Speck. Schon nachmittags freuten wir uns auf den Augenblick, wenn der Wein auf den Tisch kam, Weißwein, ein randvolles, kaltes Glas, Doles Gläser und Teller mußten voll sein. Beim Essen wurde die Haut wieder warm und der Mund beweglich. Wir spürten jetzt die Müdigkeit in den Füßen, aber der Körper war leicht, der Kopf war erfrischt. Die erste Zigarette schmeckte nach Zucker und Teer, das paßte nicht zum Wein, wir rauchten trotzdem. Wir saßen am Tisch bis wir uns schläfrig fühlten, dann hatten wir wieder Lust auf die Kälte draußen. Wir gingen auf Eis und Streusand durch den Ort und hörten Fernsehgeräusche hinter den Fenstern, Hundegebell in Zimmern und Kettenschlagen in einem Viehstall. Der Wagen stand auf dem Parkplatz vor der Kirche. Wir wischten den Schnee von den Scheiben, setzten uns dicht nebeneinander in die kalten Sitze und fuhren nach Hause, rauchend, schweigsam. Schön, wenn es eine Föhnnacht war und das Wagendach offen.
Wenn wir müde waren, nahmen wir uns keine großen Reisen vor. Wir packten Bücher für ein paar Wochen ein und verzogen uns in eine schläfrige Gegend, die nur Wolkenkuckucken bekannt war. Wir mieteten ein Haus in den Bergen und fuhren im Schlafwagen hin, die vorletzte Strecke im Personenzug, die letzte im Taxi. Es erschien uns als Luxus, nicht mit dem Wagen zu fahren, sondern ausnahmsweise mit dem Zug. Wir tranken Wein im nächtlichen Schlafabteil und schliefen geschaukelt auf einem schmalen Bett. Oder wir saßen am Fenster des Speisewagens, während draußen der Tag zu Ende ging. Außenlicht und Innenbeleuchtung vermischten sich auf der Scheibe, unsere Spiegelbilder tauchten neben uns auf. Im Zwielicht dahinter bewegten sich unbekannte Landschaften. Dole legte die Stirn an das Fenster, beschattete die Augen und zählte auf, was zu sehn war: ein verspäteter Schulausflug an der Bahnschranke; ein Bahnsteig voller Bierkisten und eine Hundehütte unter der Autobahnbrücke; Bienenhäuser hell am Gebirgshang und Industriegebiete in Rauch und Neon.
Wir machten die langen Reisen im Herbst, wenn der Tourismus vorbei war. In dem Ferienverkehr kriegst du Platzangst, sagte Dole, das ist keine Welt, wenn die Autobahnen verstopft sind und die halbe Menschheit auf Campingplätzen nach Luft schnappt. Trainingshosengespenster sind nicht mein Fall. Wir können überall schlafen, auf der Erde, im Wagen, in einem Kleinstadtbordell, aber auf einem Campingplatz
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