Lichterfest
Da kennt wirklich jeder jeden!«
»Nun, sie wohnt ja gleich ums Eck, da ist das nicht ganz so erstaunlich. Was willst du denn von ihr?«
»Ich suche sie, sie wird vermisst.«
»Suchen?«
»Ich bin Privatdetektiv.«
»So was habe ich vermutet.«
Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Die Art, wie du alles genau ansiehst, als würdest du es dir merken, ist mir sofort aufgefallen.«
Ich grinste und dachte mit leichtem Schaudern an ihre Bilder.
»Von wem wird Rosie vermisst?«
»Kann ich dir leider nicht sagen.«
Nachdenklich blickte mich Eleonora an. »Ihrer Familie?«
»Sie hat Familie?«
»Ihre Schwester lebt in der Wohnung gegenüber. Pilar heißt sie. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Rosie suchen lassen würde.«
»Wieso nicht?«
»Weil Pilar eine sehr energische Person ist. Eher würde sie ihre Schwester selbst suchen gehen, als die Hände in den Schoß zu legen und jemand anderem den Auftrag zu geben. Abgesehen davon, dass sie es sich gar nicht leisten könnte.«
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«
»Pilar?«
»Rosie.«
»Gerade kürzlich …« Sie hielt inne. »Na gut, das ist auch schon wieder einige Zeit her.« Sie rieb sich das Kinn. »Vor drei Tagen etwa?«
»Was kannst du mir über sie sagen?«
Eleonora trank einen Schluck Prosecco. »Ist sie in Gefahr?«
Ich zögerte mit der Antwort. »Ich denke nicht.«
»Du denkst nicht?«
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Der Auftrag ist mehr als merkwürdig, und ich sehe noch nicht, was sich dahinter verbirgt. Ich habe gedacht, Rosie könnte mir vielleicht weiterhelfen.«
Sie sah mich ernst an. »Rosie ist eine wunderbare Frau. Eine einfache Putzfrau, vielleicht, aber ihr Herz schlägt auf dem rechten Fleck. Und für ihre Familie, besonders für ihre Nichte und ihren Neffen würde sie einfach alles tun.«
Ich erhob mich und wischte meine Hose ab. »Dann werde ich dieser Pilar jetzt einen Besuch abstatten. Vielleicht kann sie mir sagen, wo sich ihre Schwester aufhält.«
Eleonora lächelte und stand ebenfalls auf. »War mir ein Vergnügen, Vijay. Und falls du mal in der Gegend bist …« Sie brach ab und sah mich lange an. Dann reichte sie mir die Hand. Ihr Händedruck war sanft und leicht, und doch spürte ich die Bestimmtheit dahinter. »Die Vernissage findet morgen statt.«
»Ich weiß nicht …«
»Um acht Uhr.«
»Wahrscheinlich kann ich nicht.«
»Es gibt Gratisgetränke.«
»Whisky?«
»Auch.«
»Du kannst auf mich zählen.«
Obwohl es bereits einnachtete, als ich zum dritten Mal an diesem Tag auf den Wohnblock zuging, spielten draußen noch Kinder. Ein paar von ihnen standen im Kreis und sangen ein albernes Lied:
Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot
Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot.
Er kann nicht mehr kräh’n, kokodi, kokoda
Er kann nicht mehr kräh’n, kokodi, kokoda.
Kokokokokokokokodi, kokoda.
Dazu machten sie Flugbewegungen mit ihren angewinkelten Armen. Ich lächelte ihnen zu und schritt, beschwingt vom Prosecco, die Treppe hinauf in den dritten Stock. Im zweiten klingelte mein Telefon.
»Er ist tot!« José klang völlig außer Atem.
»Der Hahn?«
»Was? Spinnst du? Hörst du denn keine Nachrichten?«
»Ich hatte zu tun.«
»Ich hab’s auch erst gerade erfahren.«
In der kurzen Pause, die folgte, hörte ich nur noch Josés abgehacktes Keuchen.
»Also?«
»Den Graf hat’s erwischt«, stieß er endlich hervor. »Er ist tot!«
»Welcher Graf?«
»Welcher wohl? Der rechte Politiker!«
»Hä? Wie erwischt?«
»Welchen Teil von ›tot‹ verstehst du nicht? Er hat ins Gras gebissen, den Löffel abgegeben, aus, futsch, vorbei, muerto! «
»Was? Walter Graf, der Kandidat fürs Stadtpräsidium, ist tot? So alt war der doch gar nicht.«
»Er wurde ja auch ermordet!«
»Was? Ermordet? Bist du sicher?«
»Absolut.«
»Wie?«
»Von afrikanischen Kriegern aufgespießt!«
Wider Willen musste ich lachen. Absurd war noch eine milde Untertreibung für Josés letzte Äußerung. »Mann, bist du jetzt völlig durchgeknallt? Was hast du geraucht?«
Doch José schnalzte nur unwillig.
»Wiederhol das noch einmal. Ich glaube, ich habe mich verhört.«
»Hast du nicht, das kann ich dir versichern. Ich bin übrigens auf dem Weg zu seiner Villa im …«
»Die ganze Schweiz weiß, wo Graf wohnt, schließlich gab es in letzter Zeit genügend Homestorys über ihn. Edle Adresse im Kreis 6. Etwas weit oben am Hang, aber die Aussicht …«
»Du hättest Makler werden sollen.
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