Lichterfest
Eleonora war erneut von der Leiter heruntergestiegen und stand jetzt direkt hinter mir. Ich roch ihre frisch gewaschene Strickjacke, und als ich mich umwandte, sah ich Lachfältchen um ihre Augen.
Sie deutete auf eines ihrer Werke. »Ich habe die Farbe in mehreren Schichten aufgetragen, so ergibt sich eine eindrücklichere Tiefenwirkung. Das Reizvolle daran ist, dass die Konsistenz stets anders ist, mal dünnflüssig, mal sogar verklumpt, ganz unterschiedlich halt.«
Ich schluckte einen Anflug von Übelkeit hinunter. »Woher …?«
Lächelnd deutete sie mit dem Daumen seitwärts. »Von den Freiern. Die Frauen bringen mir die vollen Kondome.«
Angewidert verzog ich das Gesicht. »Aber weshalb …?« Mir fehlten die Worte, ich wusste nicht, ob ich entsetzt oder fasziniert sein sollte.
»Nenn es ein Statement zur Situation der Frauen. Gemalt mit dem Treibstoff, der ihr Elend und ihre Rettung zugleich ist.«
»Du willst schockieren.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich will Gedankengänge anregen. Ich bin nicht so einfältig zu glauben, ich könnte die Welt mit ein paar Bildern ändern. Aber die Situation unkommentiert lassen, das geht für mich nicht.«
»Ein scharfer Kommentar, tatsächlich.«
»Ich will sichtbar machen, was da draußen tagtäglich geschieht. Es gibt Leute, die laufen blind durchs Quartier, durch die Stadt, durch ihr Leben. Denen möchte ich gern die Augen öffnen, und sei’s auch nur für einen kurzen Moment. Dazu muss ich sie zuerst wecken, und das geht meist nur mit einem kleinen Schreck.«
»Und funktioniert es?«
»Erstaunlich oft. Wenn du möchtest, könnte ich dich auch mal malen.«
»Hm?«
»Ich meine, wenn du etwas spenden möchtest.«
Ich starrte sie an, dann endlich begriff ich. Die nächsten Sekunden verbrachte ich mit dem Versuch, meinen offen stehenden Mund zuzuklappen.
»War nur ein Vorschlag.« Ihre leuchtenden Augen verzogen sich spitzbübisch. Dann machte sie abrupt kehrt und verschwand im hinteren Teil des Ateliers, von wo sie mit einer grünen, bauchigen Flasche zurückkehrte. »Trinkst du ein Glas mit?«
Eine Frage, die ich meines Wissens noch nie mit Nein beantwortet hatte.
»Mir bleibt nicht so viel Zeit, deswegen muss ich die Vernissage jetzt machen. Obwohl ich noch einige weitere Bilder hätte malen wollen.«
»Wieso, ist der Nachschub versiegt?«
Neckisch stieß sie mir den Ellbogen in die Rippen. »Nein. Aber der Raum wird wohl bald einem Neubau weichen und anderswo auszustellen wäre nicht das Gleiche. Der Bezug würde fehlen.«
Wir saßen auf Klappstühlen aus Kunststoff vor der Galerie und tranken Prosecco aus Plastikbechern. Farbige Lichtstreifen zuckten über die Straße, gegenüber blinkten die Bars und Klubs um die Wette. Manchmal fuhr leise brummend ein Auto vorbei. Ein ruhiger Abend im Quartier. Aus einem offenen Fenster hoch über uns röhrte schon wieder Lady Gaga, ihre brünstigen Laute vermischten sich mit Babygeplapper, diesmal schien die Gute Pech mit einer ihrer Romanzen zu haben.
Eleonora zog die Strickjacke etwas fester um die Schultern. »Zurzeit werden in diesem Quartier viele Häuser verkauft. Angeblich soll dort vorne ein edles Apartmenthotel entstehen.« Sie deutete auf ein verwittertes Eckhaus. »Es wird immer schwieriger, in der Stadt Ausstellungsräume für Kunst wie meine zu finden. Als Malerin bin ich auf billige Mieten angewiesen, ich verdiene kein Vermögen. Und die Bilder kann ich wie gesagt nur hier zeigen, sie gehören hierhin. Fragt sich nur, wie lange noch.« Sie seufzte.
»Die Gegend verändert sich.«
»Reizend ausgedrückt. Ich würde eher sagen, wir durchleben gerade eine kleine Apokalypse. Wir sehen dem Quartier, wie wir es kennen, beim Untergang zu. «
Ich zuckte mit den Schultern. »Aber so läuft das doch in vielen Städten dieser Welt. Sieh dir zum Beispiel Berlin an. Da wird im Zweijahrestakt irgendein beliebiger Stadtteil von einer meinungsbildenden Bevölkerungsschicht als hip erklärt, und schon fallen dort ganze Horden selbst ernannter Individualisten wie die Lemminge ein.«
Eleonora kicherte. »Das Problem ist, dass diese Leute von der Stimmung in einem Quartier angetan sind. Wie hier im Kreis 4 das multikulturelle Nebeneinander, das Verruchte, aber auch Aufregende. Das Leben hier ist hart, aber trotzdem irgendwie kindlich und verspielt. Man nimmt sich nicht so ernst. Das birgt Spannungspotenzial, bietet aber auch kreativen Boden für Künstler aller Art, für Kleinstgewerbe und Galerien,
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