Lichterfest
strengere Ausländerpolitik gekämpft – bei Ausschaffungen Krimineller hätten sie am liebsten die ganze Sippe hinterhergeschickt. Trotzdem: Dass Graf jetzt angeblich von afrikanischen Kriegern aufgespießt und ermordet worden war, schien mir doch etwas unverhältnismäßig, um nicht zu sagen bizarr.
Ich fragte mich, ob man die Afrikaner bereits geschnappt hatte und wie viele es waren, weshalb man so genau wusste, wie Graf ums Leben gekommen war, und welche Beweggründe hinter der Tat steckten. Ein abgelehntes Asylverfahren? Eine rassistische Bemerkung Grafs? Manchmal hatte der Politiker tatsächlich seine Zunge nicht unter Kontrolle gehabt und im Zuge hitziger Diskussionen öfters mal gewagte und politisch nicht immer korrekte Äußerungen von sich gegeben. Selbstverständlich wurde das von seinen Sprechern umgehend heruntergespielt, während die Parteikollegen, wurden sie darauf angesprochen, peinlich berührt zu Boden blickten und wahrscheinlich mit den Füßen scharrten, nur wurde das im Fernsehen leider nie gezeigt.
Ich hielt nach José Ausschau, doch so sehr ich mich auch reckte, ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Ebenso wenig nahm er meine Anrufe entgegen.
Missmutig quetschte ich mich erneut durch die Menge, in der Hoffnung, aus einer anderen Perspektive mehr zu sehen, was aber nicht der Fall war. Mittlerweile herrschte beim gaffenden Pöbel eine latent aggressive Stimmung. Die hinteren Reihen drückten nach vorn, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen, während man dort blockte, um die günstige Position um keinen Preis aufgeben zu müssen. Dabei war jedoch kein Mucks zu hören, so viel Pietät musste sein. Das war das Schöne an den Schweizern: Alles lief gesittet ab. Nur hie und da knackste ein verbissen zusammengepresster Kiefer.
Zwei junge Polizisten liefen mit geröteten Gesichtern die Absperrungen entlang und versuchten, genauso unermüdlich wie vergebens, die Menschenansammlung aufzulösen. Schrittweise kämpfte ich mich durch die Reihen, bis ich an einen niedrigen Gartenzaun aus gebeizten Holzlatten am Ende der Straße gelangte. Das Grundstück, welches rechtwinklig an dasjenige der Grafs grenzte, lag etwas erhöhnt und wirkte sehr gepflegt. Blumenrabatten und zierliche Büsche säumten den schmalen Kiesweg, der zum Wohnhaus hinaufführte. Vom Zaun aus hatte ich eine gute Aussicht auf das Geschehen: Die Einfahrt von Grafs Anwesen lag genau in meinem Blickfeld.
Als ich mich etwas gegen den Zaun lehnte, gab dieser knarrend nach, und erschrocken richtete ich mich auf. Schuldbewusst blickte ich zum Haus hoch, doch nichts regte sich. Gerade wollte ich mich wieder abwenden, als mir ein Schatten im Erdgeschoss des Gebäudes auffiel.
Mittlerweile war es dunkel geworden, sodass ich nur mit größter Anstrengung das Gesicht der alten Frau erkannte, die wie festgefroren am Fenster stand. Wäre der fahle Schein der Straßenlaterne nicht gewesen, der ihre Züge ganz leicht erhellte, ich hätte sie glatt übersehen. Dünnes, helles Haar, das sie offen trug, umrahmte engelsgleich ihr Gesicht, scharf zeichneten sich die Falten um den Mund ab. Ihre Miene war ausdruckslos, während sie starr auf das Haus des Nachbarn schaute.
Ein plötzliches Raunen in der Menge ließ mich zusammenzucken. Rasch wandte ich mich um. Es wurde so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören, als die Bahre mit dem schwarzen Leichensack herausgetragen wurde, einzig die Blitzlichter der Fotoapparate zuckten lautlos und gespenstisch über die Szene.
Ich sah zu der alten Frau, und eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke, dann wich sie zurück und verschwand in der Dunkelheit ihres Zimmers.
Mein Handy klingelte, doch noch ehe ich Josés Anruf entgegennehmen konnte, sah ich ihn bereits durch die Menge auf mich zusteuern.
» Hombre! Wo bleibst du denn?« Bestimmt schob er im Weg stehende Leute zur Seite, packte mich am Arm und zog mich mit sich. Obwohl sich keiner für uns interessierte, senkte José die Stimme, als er berichtete. »Da vorn ist die Hölle los! Eine Riesensache! Alles geht drunter und drüber. Gleich gibt’s eine erste offizielle Pressemitteilung, doch ich habe schon einiges in Erfahrung gebracht.«
»Wie das?«
Anstatt auf meine Frage einzugehen, zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
»Was ist mit den afrikanischen Kriegern?«
José grinste geheimnisvoll, während er den Rauch ausstieß.
»Was ist daran so komisch?«
»Nichts. Alles.«
»Erzähl endlich!« Seine
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