Lichterfest
Samstag sechs Stunden geputzt hatte, dann konnte sie Blanchard unmöglich am Sonntag, als er mich zum ersten Mal kontaktieren wollte, bereits vermisst haben. Außer sie hatte vergessen, sein Ego auf Hochglanz zu polieren. Aber deswegen hätte er kaum einen Detektiv engagiert. Und schon gar nicht für so viel Geld. Vielleicht hatte Rosie etwas Wertvolles mitgehen lassen? Aber weshalb hat er sie dann nicht bei der Polizei angezeigt? Offenbar war es etwas, das Diskretion erforderte und nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Etwas Brisantes, Schlüpfriges, Illegales. Was sowohl den Einbruch bei ihr erklären würde wie auch ihr plötzliches Abtauchen.
Nachdenklich blätterte ich in der Agenda herum. Rosie hatte erst Ende der Woche wieder Termine, das war zeitlich zu weit entfernt, um ihr dort aufzulauern. So lange würde ich mich bei Blanchard nicht mit fadenscheinigen Ausflüchten herausreden können. Ich blätterte wieder zurück, als ich an einem bekannten Namen hängen blieb. Scharf sog ich die Luft ein und deutete wortlos auf den Eintrag, der am gestrigen Morgen notiert war.
»Ja, da hat sie auch geputzt«, bestätigte mir Pilar nach einem flüchtigen Blick in die Agenda.
»Walter Graf wurde gestern tot in seiner Wohnung aufgefunden!«
»Ich hab’s gehört. Aber …«
»Etwa zu der Zeit, als Rosie dort geputzt hat!«
Pilars Augen weiteten sich erschrocken. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung.«
Zehn Minuten später drückte ich aufs Gas und holte das Letzte aus meinem Käfer heraus. Empört rasselnd schoss dieser durch das Quartier aufwärts, und als ich in die Straße einbog, in der Graf wohnte, sah ich, dass immer noch Übertragungswagen vor dem Haus standen, ebenso mehrere Polizeifahrzeuge. Nur Schaulustige gab es heute nicht mehr so zahlreich wie gestern, glücklicherweise.
Ein junger Polizist, der den dankbaren Job hatte, den Verkehr zu kontrollieren, wies mich mit barschen Handbewegungen an, auf der Stelle zu wenden. Ich parkte wieder einmal auf dem Gehsteig, da in nützlicher Distanz kein freier Parkplatz zu sehen war.
José kam mir entgegengerannt, kaum dass ich ausgestiegen war. » Hombre, was tust du denn hier? Die haben soeben die Ehefrau befragt. Alice Graf. Sie sagt, sie sei gestern am späten Vormittag von einer Kindergarteneröffnung im Stadtteil Höngg nach Hause gekommen und hätte ihren Mann aufgespießt gefunden.«
»Wie widerlich. Und das kurz vor dem Mittagessen. So was kann einem schon den Appetit verderben.«
José wischte meine Bemerkung mit einer unwilligen Handbewegung weg. »Eigentlich sollte Graf an dem Tag bei einer Parteiveranstaltung eine Rede halten, doch er hatte sich schon am Morgen unwohl gefühlt. Deswegen wurde der Auftritt kurzfristig abgesagt. Der Parteisekretär, der Alice Graf begleitet hat, kann dies bestätigen.«
»Fremdeinwirkung?«
José nickte eifrig. »Es gibt brandneue Ergebnisse der Untersuchungen, die gestern noch nicht bekannt gemacht werden konnten: Die Balkontüre war offen und die Scheibe zerbrochen. Gefehlt hat allerdings nichts …«
»Ein Einbruch?«
»… außer einem Bild von Hodler, das im Wohnzimmer hing.«
»Hodler? Der Schweizer Maler?«
»Genau. Ferdinand Hodler.«
»Das war alles?«
»Ja, und das reicht wohl auch.«
»Was meinst du damit?«
»Das Bild Genfersee … öhm …« Hastig blätterte er in seinem Notizblock. »Da. Der Genfersee von Saint-Prex aus hat Graf vor ein paar Jahren auf einer Auktion bei Sotheby’s ersteigert.«
»Und?«
»Das Gemälde hat einen Wert von 10,9 Millionen Franken. So viel wurde noch nie für das Werk eines Schweizer Malers geboten.«
Ich stieß einen Pfiff aus. »Finanziell wie politisch scheint es sich zu lohnen, gegen alles zu sein.«
José schüttelte den Kopf. »Graf hat sein Vermögen hauptsächlich mit seinen Immobilienfirmen gemacht. Der Lohn, den er als Parteipräsident verdiente, ist im Vergleich ein Almosen. In der Politik war er nur wegen der Macht.« José kratzte sich am Kinn. »Ich wünschte, ich könnte so etwas in der Art schreiben. Schonungsloser Journalismus. Aber sich in der jetzigen Situation kritisch zu äußern, würde selbst die Leserschaft eines Gratisblatts nicht goutieren.«
»Was bringt ihr dann? Die üblichen Schönfärbereien?«
»Ich habe versucht, ausgewogen zu berichten. Der Leitartikel in der heutigen Ausgabe stammt von mir, er ist zwei Seiten lang.«
»Fürchten sich eure Leser nicht vor Artikeln mit so
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