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Lichterfest

Lichterfest

Titel: Lichterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sunil Mann
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Freilichtmuseum zu stammen schien. Die Wände und die Decke waren mit gebeizten Holzlatten getäfelt, eine mit Bauernmalereien verzierte Anrichte stand neben dem Herd, die Fenster waren von rot-weiß karierten Vorhängen umrahmt. Über der Spüle hingen Küchenutensilien von einer Leiste, in einer Ecke stand ein Tonkrug, auf dem in blauer, verschnörkelter Schrift Rumtopf geschrieben stand. Darin steckten weitere Küchengerätschaften wie Schöpfkellen, hölzerne Kochlöffel und Pfannenwender. Die Schränke darüber verfügten über Schiebetüren und waren hellblau angestrichen.
    Claire ordnete abwesend den üppigen Blumenstrauß, der am einen Ende des Tisches in einer Vase stand.
    Ich überlegte gerade, wie ich vorgehen sollte, als sie wieder zu erzählen begann: »Ich war oft in Indien. Die Leute sind so warmherzig. Obwohl sie nichts haben, fühlt man sich beschenkt.« Dazu nickte sie eifrig mit dem Kopf, als wollte sie so dem Gesagten zusätzliches Gewicht verleihen. »Wissen Sie, Vijay, ich lebe gerne hier. Das ist mein Zuhause, auch wenn ich oft weg war. Ich liebe diese Stadt. Nur manchmal …« Sie ließ ihren Blick über das herbstlich verfärbte Laub der Birke vor dem Küchenfenster wandern. »Wenn ich die Leute sehe, wie sie mit ihren beleidigten Gesichtchen im Tram sitzen … als wären sie zu kurz gekommen. Als hätten sie etwas nicht gekriegt, was man ihnen versprochen hatte. Wie verzogene Kinder.« Sie sah mich fragend an.
    Ich wusste genau, was sie meinte, aber war nicht so unvorsichtig, mich auf eine Diskussion einzulassen, in der früher oder später die Schweiz gegen Indien ausgespielt würde. Ich hätte nicht gewusst, für wen ich Partei ergreifen sollte. Von wegen Spagat.
    »Dabei haben sie alles«, fuhr Claire fort. »Können sich so vieles leisten. Am liebsten würde ich dann einen von denen an der Schulter packen, so richtig durchschütteln und ihm ins Gesicht schreien, dass er doch mal die Augen aufmachen und sich umsehen soll, wie schön es hier ist, wie gut es uns geht. Und ob er schon mal was von Lebensfreude gehört hat.« Sie lächelte resigniert. »Aber natürlich mache ich das nie. In Indien war das immer anders. Die Leute wirken glücklich, auch wenn sie wenig besitzen.«
    Es war ja nicht so, dass ich es nicht hatte kommen sehen. Jetzt ein einziger Kommentar, und ich säße so was von zwischen den Stühlen. Ich ignorierte ihre Miene, die auf Zustimmung zu warten schien, und verkniff mir jegliche Bemerkungen.
    Stattdessen erhob ich mich und stellte mich ans Fenster. »Sie haben eine wunderbare Aussicht.«
    Sie sah erfreut auf. »Von der anderen Seite aus sieht man über die ganze Stadt. Lassen Sie uns doch …«
    »Man kann direkt das Grundstück der Grafs einsehen.«
    Claire stand jetzt ebenfalls auf, trippelte um den Tisch herum und blieb dann neben mir stehen. »Die Vorderseite, richtig. Man sah ihn nicht oft, er ging kaum einen Schritt zu Fuß. Er war eigentlich dauernd mit seinem dicken Mercedes unterwegs. Und für öffentliche Anlässe nahm er den Renault. Er gab sich ja gern volksnah.«
    Das passte perfekt zu meinem Bild des Politikers.
    »Und sie ist eine mit Temperament. Eine richtige Südländerin halt.«
    »Ich hatte immer den Eindruck, sie sei eine eher zurückhaltende Frau.«
    Claire lachte herzlich. »Vielleicht vor den Fernsehkameras. Aber zu Hause … Manchmal habe ich sie schreien gehört, wenn ich im Garten gearbeitet habe. Und ich habe ja nicht mehr die besten Ohren. Die hat dem Alten zeitweise ziemlich die Leviten gelesen. Aber er hat es verdient.«
    »Hatten sie oft Streit?«
    Überrascht sah mich Claire an und überlegte einen Augenblick. »Sie meinen, ob sie ihn umgebracht haben könnte? Niemals.« Sie schüttelte bestimmt den Kopf, während ich nach meinem Notizbuch griff, das ich neuerdings immer dabeihatte. Ich hatte bemerkt, dass mich die Leute als Detektiv ernster nahmen, wenn ich mitschrieb, was sie sagten.
    »Der wollte doch in den Stadtrat, das war sein einziges Ziel«, ereiferte sich Claire. »Er suchte den Ruhm, war eitel und selbstgefällig. Deswegen war er so oft im Fernsehen, in den Zeitungen und Magazinen. Hat dauernd Kommentare zu allem abgegeben, er hörte sich gern reden. Mehrseitige Bildstrecken von seinen Ferien in den Illustrierten, so was gefiel ihm. Sie hingegen gab sich als die bescheidene Frau hinter dem Mann, aber sie hat ihn in allem unterstützt. Ohne sie wäre er nie dahin gekommen, wo er war. Und er hätte die Wahl vielleicht sogar

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