Lichterfest
leiser gesprochen, jetzt hielt sie ganz inne und starrte gedankenverloren vor sich hin.
Ich hütete mich, sie zu stören. Als ich schon dachte, sie sei mit offenen Augen eingeschlafen, hob sie plötzlich ruckartig den Kopf und sah mich wieder an. »Und jetzt ist meine größte Freude der Garten. In einem der spießigsten Quartiere der Stadt. Ist das Leben nicht merkwürdig?«
Ich setzte ein meiner Meinung nach vielsagendes Lächeln auf, ohne auf ihre rhetorische Frage einzugehen. »Ich möchte Sie etwas fragen.«
Sofort kniff sie die Augen misstrauisch zusammen. »Schon wieder? Habe ich nicht schon genug Fragen beantwortet? Sie sind doch nicht etwa von der Polizei? Sie sehen gar nicht aus wie …«
»Aber nein!«, warf ich hastig ein.
»Der Graf ist tot, ja, ja, was für ein Unglück! Staatstrauer und vor Betroffenheit triefende Reden. Im Fernsehen bringen sie nichts anderes mehr.« Sie machte eine unwirsche Handbewegung. »Aber wenn Sie mich fragen: Mir ist das egal.«
»Tatsächlich?«
»Ich hab den nie gemocht, der war ein Fähnlein im Wind, ein Opportunist, und hat ständig den jungen Dingern nachgeglotzt. Alter Lüstling! Dabei war der doch auch schon …«
»Bald siebzig.«
»Eben!« Sie sah mich triumphierend an. »Wieso bestimmen immer so alte Säcke die Politik dieses Landes? Als wä ren eine vergrößerte Prostata und einsetzende Demenz Grund voraussetzungen für ein politisches Amt. Bei denen dreht sich doch alles nur ums Ego! Jeder werkelt an seinem Denkmal, das Volk ist denen wurst! Deswegen geht nichts mehr in diesem Land! Dank denen sind wir zur internationalen Lachnummer verkommen, genau deshalb hat keiner mehr Vertrauen in unsere Regierung. Junges Blut brauchen wir, frische Ideen!« Sie hatte aufgeregt begonnen, mit den Fingerspitzen in die Luft zu piken. Jetzt erstarrte sie mitten in der Bewegung und ließ nach einem Moment den hochgereckten Arm langsam sinken. »Aber mit der Jugend von heute ist ja auch nicht mehr viel los.« Betrübt sah sie mich an.
Mir wurde etwas schwindelig. Ich musste vorsichtig sein, wenn ich etwas erfahren wollte.
Sie lächelte mir zu. »Und nun stellen Sie Ihre Frage, junger Mann.«
Sie kam mir vor wie ein Orakel in einem Harry-Potter-Film. Ich verkniff mir ein Grinsen. »Zunächst einmal möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Vijay Kumar …«
»Sie sind Inder? Ach, wie gut hat es mir immer in Indien gefallen! Jodhpur, die blaue Stadt in der Wüste Thar. Kennen Sie die? Alle Häuser sind blau angestrichen, angeblich vertreibe das die Mücken, sagen sie. Und dann die …« Plötzlich verharrte sie wieder reglos und schien zu überlegen, dann nickte sie, als sei sie zu einem Schluss gekommen. »Aber ich rede zu viel, Herr Kumar, viel zu viel. Es gibt nicht mehr scharenweise Leute, die sich mit mir unterhalten, wissen Sie. Meist bin ich allein. Kümmere mich um den Garten, um das Haus, das Grab meines Mannes. Man wird schrullig mit dem Alter, glauben Sie mir. Und man redet wirr. Manchmal.« Sie zwinkerte mir zu. »Aber hier oben …« Sie tippte sich an die Stirn. »Hier oben ist noch alles in Schuss. Nur kommt es oft nicht so sortiert raus.«
Sie lächelte entschuldigend und kam auf mich zu. Mit einer Hand öffnete sie das niedrige Gartentor, vor dem ich bislang gestanden hatte, mit der anderen hängte sie sich bei mir ein. Ich blickte mich nach José um, doch der war nirgendwo zu entdecken. Anscheinend dauerten die Nachforschungen länger. Er würde mich anrufen, wenn er etwas in Erfahrung gebracht hatte. Ich spazierte mit meiner neuen Bekannten in kleinen, langsamen Schrittchen Richtung Haus.
»Ich bin übrigens Claire. Sie trinken doch Tee? Aber natürlich trinken Sie Tee, Sie sind ja Inder. Soll ich uns einen Masala Chai kochen? Mit etwas Glück habe ich alle Zutaten da.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als alles abzunicken, obwohl meine Meinung keine große Rolle zu spielen schien.
Ihre Hände zitterten leicht, als Claire sie flach ausgestreckt nebeneinander auf die Tischplatte aus unbehandeltem Buchenholz legte.
»Wir müssen abwarten. Der Tee schmeckt besser, wenn die Gewürze etwas länger ziehen.« Ein abwesendes Lächeln umspielte ihre Lippen, als dächte sie an etwas Angenehmes, aber weit Zurückliegendes.
Ich sah mich in der Küche um, die im Gegensatz zum Wohnzimmer, dessen Einrichtung mir aus den Einfuhrbestimmungsprospekten für verbotene Waren aus exotischen Ländern bekannt vorkam, vom Ballenberg oder aus sonst einem
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