Lichterfest
Ich langte sofort hinüber und bekam einen Jackenkragen zu fassen. Der Durchgang schränkte glücklicherweise nicht nur meine Bewegungsfreiheit ein. Mit aller Kraft zerrte ich den Oberkörper des Burschen zu uns herüber. Ehe er reagieren konnte, hatte ihm José einen Schlag ins Gesicht versetzt. Der Muskelmann brüllte auf und riss sich los. Für den Bruchteil einer Sekunde war er verschwunden, dann schwang er die Stange erneut durch die Lücke, ein Funkenregen stob auf, als sie aufschlug, hohl hallte der metallische Klang über die Baustelle. José stieß einen Schmerzensschrei aus, im nächsten Augenblick lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und hielt sich das Schienbein. Ganz kurz nur war ich abgelenkt gewesen, diesmal hatte mich der Typ am Revers meiner Jacke gepackt und mit einem groben Ruck zu sich gerissen. Mich noch am Schlafittchen, zwängte er sich durch den Spalt, sodass er jetzt auf unserer Seite stand. Unsere Lage war auch schon rosiger gewesen.
Im Dunkeln sah ich seine Zähne weiß aufleuchten, die Goldkette um seinen Hals, der die Dicke meines Oberschenkels zu haben schien, glitzerte mit seinem Gebiss um die Wette. Der Typ grinste tatsächlich, während er mit beiden Händen die Eisenstange ergriff und ausholte.
»Duck dich!«, schrie Miranda noch, dann schwang sie etwas Goldfarbenes an meinem Gesicht vorbei, ein helles Klirren erklang, gefolgt von einem dumpfen Geräusch. Als ich mich aufrichtete, sah ich den Muskelmann schwankend und benommen vor mir. Noch einmal holte Miranda aus, und sein Kopf knallte gegen die Wand. Augenblicklich wich alle Kraft aus seinen Beinen, er rutschte zu Boden, saß einen Moment lang still und kippte dann zur Seite.
Ungläubig starrte ich Miranda an. »Was war das denn?«
»Meine Handtasche.«
»Was ist da bloß drin?«
»Nichts«, erwiderte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.
»Nichts?«
»Nun ja …« Sie lächelte strahlend. »Nur was ein Mädchen an einem Samstagabend halt so braucht: das Allernotwendigste.«
»Das ist unglaublich!« José beugte sich näher zum Computer und vergrößerte mit einem Mausklick das Fenster. Fassungslos verfolgten wir die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Es war abscheulich, und trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden, während ich mein schmerzendes Handgelenk rieb. Glücklicherweise war es nicht gebrochen.
»Schaut euch diese Brutalität an!«, rief José entsetzt. »Die kennen kein Erbarmen. Und da! Die hören selbst dann nicht auf, wenn ihr Opfer am Boden liegt und blutet. Wieso tut jemand so was? Was sind das bloß für Menschen?«
»Mein Gott, sehe ich fett aus!«, entfuhr es Miranda, die hinter uns stand. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und blickte an sich runter. »Findet ihr auch, ich bin zu dick?«
Einmütig und ohne aufzublicken schüttelten José und ich den Kopf.
»Ich fass es nicht!« José sprang auf und begann, aufgebracht im Raum auf und ab zu gehen. Obwohl Journalist für ein Gratisblatt war er normalerweise ein eher phlegmatischer Zeitgenosse, der nicht mehr als ein paar Drinks und einen guten Film brauchte, um sich von der Welt, wie sie war, abzukapseln. Manchmal ergänzte er die Liste noch um einen Joint oder zwei. Doch über ein heißes Thema, seien es soziale Ungerechtigkeiten, spektakuläre Mordfälle oder das seiner Meinung nach mannigfaltige Versagen der Politik, konnte er sich regelrecht echauffieren. Dann erwachte auch seine journalistische Spürnase.
»Darüber werde ich eine Reportage verfassen. Über diese Verrohung, diese sinnlose Gewalt. Diese … diese komplett bescheuerten Wichser! Jemand muss doch etwas tun, man kann doch nicht einfach … Und nächste Woche geschieht es wieder, nur mit anderen Beteiligten. Alle gucken zu und keiner tut was. Das ist ein Skandal!«
»Der Skandal ist dieses verdammte Kleid! Und das ungünstige Licht! Und vor allem dieser Lümmel, der nicht weiß, dass man eine Kamera still halten muss, wenn man filmt. Den hätte man verprügeln sollen!«
Da hatte Miranda allerdings recht: Das Filmchen, vor zwei Stunden unter der Hardbrücke mit einem Handy gefilmt und danach unverzüglich auf YouTube veröffentlicht, war ziemlich verwackelt. Nur verschwommen konnte man erkennen, wie die drei Typen brutal auf den jungen Türken eindroschen, bevor wir uns einmischten.
»Lasst uns mal weitersuchen, ob es noch was in besserer Qualität gibt.« Rasch scrollte José durch die aufgelisteten Beiträge und wählte dann einen weiteren Clip aus, doch auch dieser
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