Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
weggehen möchtest, zu Firio.«
Jil schmunzelte. »Nein. Vorerst gehe ich nicht weg. Uns wird schon eine Lösung einfallen.«
Jil war die Berührung ihrer Schwester unangenehm. Sie spürte, dass es Dana nicht gut ging, aber Jil empfand die Nähe anderer Menschen als bedrohlich. Sie wusste, dass Dana sich nach einer Umarmung sehnte, aber das war eindeutig zuviel verlangt. Jil stand von der Bank auf und verließ das Haus, ohne sich noch einmal nach Dana umzudrehen.
Ihre Schwester hatte sie auf eine Idee gebracht. Firios Gesellschaft würde ihr nun gut tun. Der unbeschwerte Musiker mit seiner sorglosen Art war jetzt genau das, was Jil brauchte. Obwohl ihr noch immer die Beine und Füße schmerzten, nahm sie erneut den weiten Weg in die Innenstadt auf sich.
Jil hätte sich denken können, dass sie Firio nicht bei den Parkbänken unter dem Reiterdenkmal oder vor der Bibliothek finden würde, trotzdem schritt sie alle Plätze ab, die der Musiker für gewöhnlich nutzte, um die Passanten mit seinen Liedern zu erfreuen. Es war Sonntag und die meisten Menschen saßen nachmittags bei Tee und Kuchen anstatt durch die ausgestorbene Stadt zu flanieren. Wahrscheinlich musizierte Firio heute nicht. Jil seufzte und beschloss, sich auf den Weg hinunter zum Meeresufer am südöstlichen Ende der Stadt zu machen. Dort lebte Firio in einer alten Scheune, die die Besitzer des Grundstücks nicht nutzten und ihm zur freien Verfügung überlassen hatten.
In der Nähe des Wassers waren die Häuser niedriger und bei weitem nicht so alt. Hier gab es nur wenig stuckverzierte Gebäude, sondern größtenteils Flachbauten aus Holz oder Ziegelsteinen neueren Datums, weil die Herbststürme und die feuchte Witterung jegliches Gemäuer mit der Zeit zerstörten. Manchmal gab es sogar eine Flut, deshalb gab es ganz nahe am Wasser kaum noch Gebäude.
Jil passierte die Überreste einer alten Lagerhalle, die vor einigen Jahrzehnten abgebrannt war. Junge Burschen hatten sie damals in Brand gesteckt, vermutlich war es eine Mutprobe gewesen. Sie waren allesamt dabei ums Leben gekommen. Man erzählte sich noch heute die Geschichte. Jil wandte den Blick schaudernd von der Ruine ab.
Die Schatten wurden bereits länger, als Jil die kleine Scheune erreichte, in der Firio lebte. Sie stand ganz dicht am Wasser, eines der wenigen noch existierenden Gebäude auf einer kleinen Landzunge, die noch nicht vom Sturm verschluckt worden waren. Das stete Rauschen des Wassers wirkte beruhigend auf Jil. Die Scheune bestand nur aus einem einzigen Raum. Firio hatte ihr einmal erzählt, dass die Besitzer hier ursprünglich Fischernetze gelagert hatten. Der Geruch von Fisch sei seitdem nicht wieder heraus zu bekommen, egal wie gründlich man lüftete.
Jil rüttelte an der Tür, aber niemand öffnete. Es brannte auch kein Licht. Wo konnte Firio an einem Sonntag bloß sein?
Jil setzte sich auf einen Felsen neben der Hütte. Vielleicht würde Firio tatsächlich bald wiederkehren. Sie betrachtete die Wasseroberfläche, die im sterbenden Licht der untergehenden Sonne glitzerte wie tausend goldene Juwelen. Es war ein lauer Spätsommerabend. Das Rauschen des Meeres und die Rufe der Möwen wirkten beruhigend auf Jil. Vorsichtig stand sie von ihrem Platz auf dem Stein auf und balancierte hinunter bis zum Ufer. Dann zog sie einen ihrer Stiefel aus und benetzte ihren nackten Fuß mit Wasser. Es war überraschend warm. Jil legte auch ihren anderen Stiefel auf einen kleinen Felsvorsprung und setzte sich daneben, beide Füße hingen bis zu den Waden im Wasser.
Der Abend kroch über das Land, und die Nacht folgte ihm auf den Fersen. Noch immer war Firio nicht zurückgekehrt. Jil verspürte nicht den geringsten Drang, nach Hause zurückzukehren, obwohl der Mond bereits aufgegangen war. Sie kletterte behutsam zurück hinauf zur Straße, mit den Händen und den nackten Füßen stets nach einem sicheren Halt zwischen den Gesteinsspalten suchend. Die Straße war menschenleer. So weit unten am Hafen gab es keine Laternen mehr, sodass der Mond und die fernen Lichter auf der Insel Falcon’s Eye die einzigen Lichtquellen waren. Jil hatte noch einen weiten Heimweg vor sich und in der Dunkelheit war Haven kein schöner Ort, erst recht nicht für eine Frau. Allerhand Gesindel kroch nachts aus seinen Löchern, die Betrunkenen waren noch das kleinere Übel. Jil war nur eine Kleinkriminelle, nichts im Vergleich zu den Schlägern und Frauenschändern, die sich im Schutze der Dunkelheit auf den Straßen
Weitere Kostenlose Bücher