Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
Sie wusste nicht, weshalb, aber sie wollte jetzt allein sein. Sie hatte nicht mehr die Stärke, diesem Mann jetzt gegenüberzutreten. Er hatte Ray getötet. Er war zwar ein Vartyd gewesen und Jil hatte ihn gehasst, aber sie hatte ihn gekannt. All die anderen Leichen bedeuteten ihr nichts, sie waren namenlose Schatten, die in Jils Leben keine Rolle gespielt hatten.
»Verdammt, ich will das Mädchen!«, brüllte Cryson. »Sucht nach ihr!«
Einige Sedharym schwärmten aus und durchforsteten das umliegende Waldstück. Andere begannen damit, die Leichen ihrer eigenen Leute fortzuzerren. Die toten Vartyden ließen sie liegen. Spätestens am Morgen, wenn die ersten Spaziergänger mit ihren Hunden hierher kamen, würde man die Spuren des Kampfes entdecken.
Jil beobachtete, wie jemand Cryson eine Hand auf die Schulter legte. »Komm jetzt mit, Cam und Rio werden das Mädchen schon finden«, sagte der Mann. Seine Kleidung war zerfetzt, sein rechtes Auge blau und geschwollen. Cryson nickte und verließ mit gesenktem Haupt den Tatort. Jil jedoch blieb noch minutenlang regungslos auf ihrem Ast liegen, bevor sie schließlich in unendlicher Langsamkeit hinab kletterte.
Es war totenstill. Der Mond hüllte die verbliebenen Leichen in ein unwirkliches Licht. Die Stimmung war gespenstischer als auf einem Friedhof.
Jil blickte auf Rays Körper hinab. Er lag auf der Seite, die Beine bis an den Körper heran gezogen. Er sah aus, als schliefe er. Jil hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, als er plötzlich die Augen aufschlug und ihre Blicke sich trafen. Ein leises Stöhnen entwich seiner Kehle. Seine Mundwinkel zuckten, als versuchte er zu lächeln.
Jil stand wie angewurzelt da und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine Woge aus gemischten Emotionen brandete über sie hinweg. Erschütterung, Hilflosigkeit, Verwirrung und Schuldgefühle wechselten sich ab. Sogar ein wenig Erleichterung suchte sich seinen Weg in Jils Bewusstsein.
Stöhnend drehte Ray sich auf den Rücken. Sein schwarzer Anzug glänzte feucht von Blut. Unter dem linken Schlüsselbein klaffte ein Loch im Stoff.
»Wie kann das möglich sein?«, flüsterte Jil. »Du lebst ja noch.«
Ray hustete. »Schade, oder?« Seine Stimme war leise und belegt. Er verzog sein vernarbtes Gesicht zu einem schiefen Grinsen, bevor es sich wieder im Schmerz verzerrte. Er hob eine blutverschmierte Hand und streckte sie nach Jil aus, aber er war zu schwach und Jil zu weit von ihm entfernt, als dass er sie hätte erreichen können. Das gelbliche Glühen war aus seinen stechend blauen Augen gewichen, stattdessen lag darin jetzt ein Flehen, das Jil das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Ich kann dir nicht helfen, was soll ich denn tun?«, versuchte Jil sich zu rechtfertigen.
»Dann geh und lass mich allein sterben«, murmelte Ray und schloss die Augen. Er bewegte sich nicht, aber sein Brustkorb hob und senkte sich in flachen, unregelmäßigen Atemzügen. Jil wollte sich abwenden und gehen, aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen.
Er gehört zu den bösen Buben in diesem Spiel , versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Er hat es verdient, zu sterben. Geh und vergiss alles, was dich je mit diesem Volk verbunden hat.
In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Ray ihr die Erinnerungen gelöscht hätte, als noch Gelegenheit dazu war.
Jil, die für ihre spontanen und übereilten Aktionen bekannt war, sah sich nun mit ihrer eigenen Unentschlossenheit konfrontiert. Sie konnte Ray nicht helfen. Er würde ohnehin sterben. Aber sie konnte auch nicht so herzlos sein, ihn hier liegen zu lassen. Er war ein arroganter Wichtigtuer, der selbst zahllose Leben auf dem Gewissen hatte, aber Jil schaffte es einfach nicht mehr, den Hass auf ihn wiederzuerwecken.
Rays Atmung verlangsamte sich. Es begann bereits zu dämmern. Jil hatte das Zeitgefühl völlig verloren. Es kam ihr vor, als starrte sie schon seit Stunden auf ihn hinab. Wenn er doch nur endlich sterben würde… Es würde nicht mehr lange dauern, ehe der Parkwächter seine erste Runde drehte. Wenn Jil dann noch immer hier stand, würde sie sich automatisch zu einer Verdächtigen machen. Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.
»Ray?«, flüsterte sie. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal die Augen aufschlagen, geschweige denn etwas sagen würde, doch er schien hart im Nehmen und noch immer bei klarem Verstand zu sein.
»Du bist ja immer noch hier«, hauchte er. Jil war sich nicht sicher,
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